Tunnel - 02 - Abgrund
auffälligsten irgendeine kürzlich gegründete Boygroup und einen Silvester-Flohmarkt bewarben.
Sarah blieb stehen und starrte auf das Geschäft. Seit Generationen hatte die Bevölkerung der Kolonie auf die Familie Clarke vertraut, die sie regelmäßig mit frischem Obst und Gemüse versorgt hatte. Natürlich gab es noch andere Händler, aber die beiden Gebrüder und ihre Vorfahren waren, solange Sarah – oder sonst jemand in der Kolonie – sich erinnern konnte, treue Verbündete gewesen. Und Sarah wusste: Falls sie nicht beide verstorben waren, bestand nicht der geringste Grund zu der Annahme, dass sie ihr Geschäft einfach so aufgegeben hatten, jedenfalls nicht freiwillig.
Sie betrachtete die verrammelten Fensterläden der Ladenfront ein letztes Mal und ging dann weiter. Der Anblick des geschlossenen Gemüsegeschäfts bestätigte das, was in dem Brief gestanden hatte: Die Kolonie wurde noch stärker als zuvor abgeschottet und die meisten der Versorgungswege von Übergrund in die unterirdische Welt waren gekappt. Das Ganze bestärkte nur Sarahs Eindruck, dass sich die Lage dort unten sehr zugespitzt hatte.
Ein paar Kilometer weiter bog Sarah in die Broadlands Avenue ein. Als sie sich dem Haus der Familie Burrows näherte, sah sie, dass die Vorhänge zugezogen waren und sich im gesamten Gebäude kein einziges Lebenszeichen erkennen ließ. Ganz im Gegenteil: Ein weggeworfener Umzugskarton unter dem Anbau und der ungepflegte Vorgarten verrieten ihr, dass das Haus schon seit Monaten nicht mehr bewohnt wurde. Während sie mit unvermindertem Tempo daran vorbeiging, entdeckte sie aus den Augenwinkeln ein umgestürztes Reklameschild eines Immobilienmaklers, das im hohen Gras hinter dem Maschendrahtzaun lag. Sarah setzte ihren Weg fort, vorbei an den identisch aussehenden Häusern bis zum Ende der Straße, wo sie durch eine schmale Gasse zum Gemeindeland gelangte.
Sie legte den Kopf in den Nacken, blähte die Nasenflügel und sog die Luft ein, eine Mischung aus Stadt- und Landgerüchen: Auspuffgase und das leicht säuerliche Aroma größerer Menschenmengen kämpften gegen den Duft des feuchten Grases und der frischen Vegetation an.
Da es noch immer viel zu früh war, schlug Sarah etwas Zeit tot, indem sie auf einen Weg einbog, der zur Mitte des Gemeindelands führte. Doch sie hatte kaum ein paar Meter zurückgelegt, als schwere graue Wolken den Himmel verdüsterten und für eine frühe Abenddämmerung sorgten. Lächelnd machte sie auf dem Absatz kehrt und lief zu dem Pfad zurück, der das Gemeindeland umrundete.
Sie folgte diesem Pfad mehrere Hundert Meter und tauchte dann ins Gebüsch ein, um sich einen Weg durch die Büsche und Sträucher zu bahnen, bis sie die Rückseite der Häuser an der Broadlands Avenue sehen konnte. Während sie geduckt vorwärtsschlich, beobachtete sie die Bewohner der Häuser vom Ende ihres jeweiligen Gartens. In einem Wohnzimmer saß ein älteres Ehepaar steif an einem Esstisch und löffelte Suppe. In einem anderen Haus las ein korpulenter Mann in Unterhemd und Hose die Zeitung und rauchte eine Zigarette.
Die Bewohner der beiden darauf folgenden Häuser konnte Sarah nicht sehen, da dort die Vorhänge zugezogen waren, doch im nächsten Wohnzimmer stand eine junge Frau am Fenster und spielte mit einem Kleinkind, das sie auf und ab hüpfen ließ. Sarah hielt abrupt inne, um das Gesicht der Frau zu beobachten. Als sie spürte, wie die unterdrückten Emotionen und das schreckliche Gefühl des Verlustes wieder in ihr aufwallten, riss sie sich vom Anblick der Mutter mit ihrem Kind los und lief weiter.
Schließlich erreichte sie ihr Ziel. Sarah blieb an der gleichen Stelle hinter dem Haus der Familie Burrows stehen, an der sie schon so viele Male gestanden und darauf gehofft hatte, wenigstens einen kurzen Blick auf ihren Sohn werfen zu können, der in diesem Gebäude aufwuchs und sich immer stärker von ihr entfernte.
Nachdem sie gezwungen gewesen war, ihn auf dem Friedhof zurückzulassen, hatte sie ganz Highfield nach ihm abgesucht. In den darauffolgenden zweieinhalb Jahren hatte sie sämtliche Straßen durchkämmt und vor Kindergärten und Grundschulen herumgelungert, stets eine dunkle Sonnenbrille auf der Nase, da sie sich nur mühsam an das grelle Tageslicht gewöhnen konnte. Aber von ihrem Sohn war nirgends eine Spur zu sehen. Daraufhin hatte sie ihren Radius erweitert und sich immer weiter hinausgewagt, bis sie auch die angrenzenden Londoner Stadtteile durchsucht hatte.
Und dann, eines
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