Tunnel - 02 - Abgrund
Tages kurz nach dem fünften Geburtstag ihres Sohnes, war sie zufällig erneut durch Highfield gelaufen, als sie ihn plötzlich vor der Hauptpost des Ortes entdeckte. Er war schon recht sicher auf den Beinen und rannte wild mit einem Spielzeugdinosaurier auf und ab. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte er sich stark von dem Kleinkind entfernt, das sie auf dem Friedhof zurückgelassen hatte. Nichtsdestoweniger hatte sie ihn sofort wiedererkannt. Schließlich war er unverwechselbar: Sein weißer, widerspenstiger Haarschopf besaß die gleiche Leuchtkraft wie ihre eigenen Haare, die sie zurzeit jedoch färbte, um die auffällige Haarfarbe zu kaschieren.
Damals war sie Seth und seiner Adoptivmutter durch die Geschäfte bis nach Hause gefolgt, um herauszufinden, wo ihr Junge nun lebte. Ihren ersten Impuls, ihn einfach zu schnappen und mit ihm davonzulaufen, hatte sie unterdrückt. Das wäre viel zu gefährlich gewesen, da die Styx ihr noch immer auf den Fersen waren. Und so kehrte sie Jahr für Jahr nach Highfield zurück, und sei es auch nur für einen halben Tag, um wenigstens einen kurzen Blick auf ihren Sohn zu werfen. Vom hinteren Ende des Gartens hatte sie oft zu ihm hinübergestarrt, wobei ihr die Rasenfläche wie ein unüberwindbarer Abgrund erschienen war. Während Seth immer größer und kräftiger wurde, entwickelte er eine solch frappierende Ähnlichkeit zu ihr, dass sie manchmal dachte, sie würde in den Scheiben der Terrassentüren ihr eigenes Spiegelbild sehen.
Bei diesen Gelegenheiten sehnte sie sich schrecklich danach, ihn über die verführerisch kurze Entfernung zu sich zu rufen; aber sie hatte der Versuchung nie nachgegeben. Sie durfte es einfach nicht. Häufig fragte sie sich, wie er wohl reagiert hätte, wenn sie durch den Garten ins Wohnzimmer hineinspaziert wäre und ihn an sich gedrückt hätte. Sie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte, wenn sie sich die Szene ausmalte, wie die Vorschau eines Fernsehmelodrams: Mit Tränen in den Augen würden sie einander ansehen, in sprachlosem gegenseitigem Erkennen. Und er würde die Worte »Mutter, Mutter« murmeln, wieder und wieder.
Aber das gehörte jetzt alles der Vergangenheit an.
Und wenn sie Joe Waites’ Nachricht Glauben schenken durfte, dann war ihr Sohn jetzt ein Mörder – ein Mörder, der für seine Verbrechen büßen würde.
Sie durchlitt Folterqualen, während sie sich innerlich hin und her gerissen fühlte zwischen der Liebe, die sie einst für ihr Kind empfunden hatte, und dem dumpfen Hass, der in ihr brodelte. Die beiden Extreme, die erbarmungslos an ihr zerrten, waren so mächtig, dass sie das Gefühl hatte, sich in einem Zustand geistiger Verwirrung zu befinden und vor Benommenheit gar nicht geradeaus denken zu können.
Hör auf damit! Herrgott noch mal, hör endlich auf damit! Was geschah mit ihr? Ihr Leben, das viele Jahre so beherrscht und diszipliniert verlaufen war, geriet zunehmend aus den Fugen. Sie musste sich unbedingt wieder in den Griff bekommen. Verbissen kratzte sie sich mit den Fingernägeln über den Handrücken, wieder und wieder und mit immer stärkerem Druck, bis die Haut schließlich aufriss. Der stechende Schmerz lenkte sie ab und schenkte ihr auf bittere Weise Erleichterung.
Ihr Sohn war in der Kolonie auf den Namen Seth getauft worden, doch in Übergrund hatte man ihn Will genannt. Ein in Highfield ansässiges Paar namens Burrows hatte ihn adoptiert. Während es sich bei der Mutter, Mrs Burrows, nur um den Schatten einer Frau handelte, die fast ihr gesamtes Leben vor dem Fernseher verbrachte, hatte sich Wills Stiefvater, der Direktor des örtlichen Museums, für den Jungen zu einem Vorbild entwickelt.
Sarah war Will bei zahlreichen Gelegenheiten gefolgt, hatte seine Spur aufgenommen, wenn er auf seinem Fahrrad davonfuhr, einen glänzenden Spaten über den Rücken geschnallt. Sie beobachtete den einsamen Jungen, der sich die Baseballkappe tief über die charakteristischen weißen Haare gezogen hatte, wenn er sich auf dem Brachland am Stadtrand, in der Nähe der kommunalen Mülldeponie, herumtrieb. Sie sah zu, wie er erstaunlich tiefe Löcher aushob, dank der Unterstützung und Anleitung von Dr. Burrows, wie Sarah annahm. Welch eine Ironie des Schicksals, dachte sie häufig. Nachdem er der Tyrannei der Kolonie entkommen war, schien es nun, als würde er versuchen, zu ihr zurückzukehren – wie ein Lachs, der stromaufwärts zu seinem Laichgrund schwimmt.
Aber was war mit ihrem Seth geschehen,
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