Tunnel - 02 - Abgrund
ihrem Ohr ertönte. Die Stimme klang triumphierend und anklagend.
»Hab dich!«, verkündete sie.
Dann legte sich eine große Hand schwer auf ihre linke Schulter und zerrte sie von der Tür fort. Ruckartig drehte Sarah den Kopf, um einen Blick auf den Angreifer zu werfen. Im schwachen Mondlicht sah sie eine dreieckige, hagere Wange mit zuckenden Muskeln und etwas, das ihr Herz einen Schlag aussetzen ließ: einen weiß aufblitzenden Kragen und eine Schulterpasse aus dunklem Stoff.
Ein einziger, magenverdrehender Gedanke schoss Sarah durch den Kopf.
Styx!
Der Angreifer war stark und hatte den Vorteil des Überraschungsmoments, doch Sarahs Reaktion erfolgte fast reflexartig. Sie schlug mit dem Arm gegen seinen Ellbogen, fegte seine Hand von ihrer Schulter und schlang ihren Arm um seinen, sodass sie ihn mit einer einzigen, gekonnten Bewegung in einem schmerzhaften Haltegriff festhielt. Im nächsten Moment hörte sie, wie er scharf die Luft einzog – anscheinend verlief die Sache für ihn doch nicht ganz wie geplant.
Während Sarah sich nach hinten lehnte, um den Griff auf ihn zu verstärken, versuchte der Mann, nach vorne auszuweichen und den Druck auf seinen Ellbogen zu lindern. Dadurch brachte er jedoch seinen Kopf in ihre Reichweite, und als er gerade den Mund öffnete, um nach Verstärkung zu rufen, setzte Sarah ihn mit einem gezielten Schlag gegen die Schläfe außer Gefecht. Bewusstlos sackte er auf der Terrasse zusammen.
Sarah hatte sich ihres Angreifers mit brutaler Präzision und mörderischer Geschwindigkeit entledigt, aber sie hatte nicht vor, länger herumzustehen und ihr Werk zu bewundern. Das Risiko, dass sich weitere Styx in der Nähe befanden, war viel zu groß. Sie musste schleunigst verschwinden.
Sie spurtete durch den Garten und wühlte gleichzeitig in ihrer Umhängetasche nach ihrem Messer. Als sie die Öffnung in der Hecke erreichte, wähnte sie sich bereits in Sicherheit und plante ihre Flucht quer über das Gemeindeland.
»WAS HAST DU MIT IHM GEMACHT?«, brüllte in diesem Moment eine wütende Stimme, und ein großer Schatten versperrte ihr den Weg.
Sarah zog das Messer aus der Tasche, wobei die hastig hineingestopften Briefe mit herausgerissen wurden und in einem hohen Bogen durch die Luft flogen. Doch irgendetwas traf Sarah wie ein Peitschenschlag an der Hand, sodass sie das Messer fallen ließ.
Im Mondlicht sah sie das silberne Glitzern der Insignien, die Ziffern und die Buchstaben auf der Uniform des Mannes, und erkannte viel zu spät, dass es sich bei diesen Männern nicht um Styx handelte. Es waren Polizeibeamte! Und sie hatte einen von ihnen schon k. o. geschlagen. Dummerweise hatte er sich ihr und ihrem Selbsterhaltungstrieb in den Weg gestellt. Aber wahrscheinlich hätte sie auch dann nicht anders gehandelt, wenn sie gewusst hätte, dass er ein Polizist war.
Sarah versuchte, dem Mann auszuweichen, der sich jedoch rasch zur Seite bewegte, um ihr den Weg abzuschneiden. Sofort ging sie mit den Fäusten auf ihn los, doch er war darauf vorbereitet.
»Widerstand gegen die Staatsgewalt«, knurrte er und schwang den Gegenstand erneut. Bruchteile vor dem Aufprall erkannte sie, dass er einen Schlagstock in der Hand hielt. Der Polizeiknüppel traf sie mit voller Wucht an der Stirn und eine Explosion gleißender Lichtsterne tanzte vor ihren Augen. Sie ging zu Boden.
»Hast du jetzt genug, du Miststück?«, schäumte der Beamte. Sein vor Wut verzerrter Mund spuckte ihr die Worte ins Gesicht, während er sich über sie beugte. Sarah gab sich alle Mühe, ihm einen weiteren Hieb zu verpassen, doch ihr Schlag war jämmerlich schwach, und er wehrte ihn mühelos ab.
»Ist das alles? Mehr hast du nicht drauf?«, lachte er freudlos, ging in die Hocke und drückte ihr das Knie auf die Brust, sodass sie sich kaum noch bewegen konnte. Sarah fehlte die Kraft für weiteren Widerstand – der Polizist war einfach zu wütend und außerdem viel zu schwer. Sie hatte das Gefühl, als würde ein Elefantenbulle sie als Fußbank benutzen.
Sie versuchte ein letztes Mal, sich unter ihm herauszuwinden, aber es war zwecklos. Ein Gefühl der Benommenheit erfasste sie. Sie glaubte, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren – ein keineswegs unangenehmes Gefühl. Es bot ihr eine Zuflucht vor dem Schmerz und der Gewalt, einen sicheren Ort, an dem all das hier keine Rolle mehr spielte.
Doch sie riss sich zusammen.
Nein, sie durfte nicht aufgeben. Nicht jetzt.
Von der Terrasse ertönte das Stöhnen des
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