Tunnel - 02 - Abgrund
erinnert ein wenig an Holzfasern, die sich spalten, sobald sie feucht werden.«
»Jaja, ganz toll«, sagte Chester. »Aber was ist, wenn sich die Schichten wieder schließen? Was dann?«
»Vermutlich wäre das möglich – nach vielen Tausend Jahren.«
»Bei meinem Fallglück passiert das wahrscheinlich ausgerechnet heute«, murmelte Chester trübselig, »und ich werde zerquetscht wie eine Laus.«
»Ach was, nun komm schon. Die Wahrscheinlichkeit, dass so was jetzt passiert, ist verdammt klein.«
Doch Chester brummte nur skeptisch.
13
Im geschickt versteckten Eingang des leeren Kellergewölbes eines alten Armenhauses in Highfield, unweit der High Street, stieg Sarah in einen Fahrstuhl. Sie stellte ihre Tasche neben sich ab, schlang die Arme um den Körper und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Während sie sich in eine der hinteren Ecken des Fahrstuhls zurückzog, schaute sie sich um. Sie hasste es, in diesem begrenzten Raum eingesperrt zu sein, ohne jede Fluchtmöglichkeit. Die Seiten sowie die Decke des etwa vier mal vier Meter großen Fahrstuhls bestanden aus schweren, miteinander verwobenen Metallstreben, und auf allem lag eine dicke Schicht aus Ölschmiere und Dreck.
Sarah hörte, wie sich die Styx kurz und gedämpft mit den Kolonisten unterhielten, die in der Ziegelsteinkammer vor dem Fahrstuhl zurückgeblieben waren, und dann stieg Rebecca zu, ohne jede Begleitung. Das Mädchen würdigte Sarah keines Blickes, während sie geschmeidig auf dem Absatz kehrtmachte und sich vor dem Scherengitter positionierte, das einer der Styx nun zuschob. Rebecca legte den Messinghebel neben der Tür um und hielt ihn nach unten gedrückt, woraufhin sich der Fahrstuhl mit einem Ruck und einem dumpfen Quietschen der Aufzugswinde in Bewegung setzte und langsam in die Tiefe fuhr.
Meter für Meter rumpelte der Fahrstuhl in die Tiefe hinab, wobei der schwere Gitterkorb immer wieder gegen die Schachtwände rasselte, begleitet vom quietschenden Knirschen von Metall auf Metall.
Sie waren auf dem Weg in die Kolonie.
Eine neue Empfindung stieg in Sarah auf, sosehr sie sie auch zu unterdrücken versuchte – eine Art Vorfreude, die sich gegen ihre Angst und Furcht durchsetzte. Sie kehrte in die Kolonie zurück! Ihren Geburtsort! Es schien, als hätte man ihr plötzlich die Möglichkeit eingeräumt, in die Vergangenheit zu reisen. Mit jedem Meter, den der Fahrstuhl in die Tiefe hinabfuhr, drehte sich die Uhr rückwärts und brachte Stunde um Stunde, Jahr um Jahr zurück. Nicht in ihren kühnsten Träumen hatte Sarah sich vorgestellt, jemals wieder einen Blick auf die Kolonie werfen zu können. Sie hatte diese Möglichkeit mit solch einer unerbittlichen Entschiedenheit ausgeschlossen, dass sie nun kaum begreifen konnte, dass sie in diesem Moment tatsächlich dorthin zurückkehrte.
Sie holte ein paarmal tief Luft, ließ die Arme sinken und richtete sich auf.
Von der Existenz dieser Fahrstühle hatte sie zwar gehört, aber nie zuvor einen zu Gesicht bekommen – und damit gefahren war sie schon gar nicht.
Sarah lehnte den Kopf gegen das Metallgitter und betrachtete die Schachtwände, während der Aufzug weiter hinabrumpelte. Im Schein von Rebeccas Lampe erkannte sie, dass die Schachtwände übersät waren von unzähligen, regelmäßigen Furchen und Rillen – Zeugnisse der Arbeitstruppen, die vor etwa drei Jahrhunderten mit primitiven Gerätschaften den Weg zur Kolonie angelegt hatten.
Während die verschiedenen Gesteinsschichten mit ihren braunen, rötlichen und grauen Schattierungen an ihr vorbeizogen, musste Sarah an all die Mühen, an das Blut und den Schweiß denken, die mit der Gründung der Kolonie verbunden gewesen waren. So viele Menschen, Generation für Generation, hatten ihr ganzes Leben daran gearbeitet. Und sie, Sarah, hatte das alles von sich gewiesen und war nach Übergrund geflohen.
Am oberen Ende des Schachts, das inzwischen mehrere Hundert Meter über ihr lag, nahm das Quietschen der Aufzugswinde nun einen schrilleren Ton an, da der Fahrstuhl jetzt mit höherer Geschwindigkeit in den Abgrund raste.
Dieser relativ bequeme Zugang zur Kolonie war in nichts mit dem Weg zu vergleichen, den sie zwölf Jahre zuvor während ihrer Flucht genommen hatte. Damals war sie gezwungen gewesen, eine steinerne Wendeltreppe zu erklimmen, die sich im Inneren eines riesigen Ziegelsteinschachts hochwand. Der Aufstieg war lang und mühselig gewesen, zumal sie den kleinen Seth hinter sich hergezogen hatte. Dabei war
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