Tunnel - 02 - Abgrund
der letzte Abschnitt ihrer Fluchtroute der schwierigste gewesen: Sie hatten durch einen uralten Kaminschacht nach oben ins Freie klettern müssen. Während sie mit Händen und Füßen an den bröckelnden, rußbedeckten Ziegelsteinen Halt gesucht hatte – immer den weinenden, verwirrten Jungen im Schlepptau –, hatte sie ihre letzten Kraftreserven mobilisieren müssen, um nicht loszulassen und in die Tiefe hinabzustürzen.
Denk jetzt nicht darüber nach, ermahnte Sarah sich kopfschüttelnd. Ihr war bewusst, wie unendlich erschöpft sie von den Ereignissen der vergangenen Stunden war, aber sie musste sich zusammenreißen. Der Tag war noch lange nicht vorbei. Konzentrier dich, drängte sie sich und warf einen Blick auf das Styx-Mädchen vor ihr.
Rebecca, die Sarah den Rücken zukehrte, hatte sich seit Fahrtbeginn keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Hin und wieder scharrte sie ungeduldig mit dem Schuh über die stark zerkratzte, schmierige Stahlbodenplatte des Fahrstuhlkorbs – sie konnte es eindeutig kaum erwarten, das Ende des Schachts zu erreichen.
Ich könnte sie jetzt sofort beseitigen. Dieser Gedanke drängte sich Sarah urplötzlich auf. Da das Styx-Mädchen ohne ihre übliche Eskorte eingestiegen war, würde nichts und niemand sie daran hindern können. Die Vorstellung nahm immer konkretere Formen an und Sarah wusste, dass ihr nicht viel Zeit blieb, bis der Fahrstuhl sein Ziel erreichte.
Ihr Messer befand sich noch immer in ihrer Tasche – aus irgendeinem Grund hatten die Styx es ihr nicht weggenommen. Sarah warf einen Blick auf die Tasche neben ihren Füßen und versuchte abzuschätzen, wie lange sie benötigen würde, um das Messer hervorzuholen. Nein, zu riskant. Ein Schlag auf den Schädel war viel besser. Sie ballte die Hände zu Fäusten … öffnete sie dann aber wieder.
NEIN!
Sarah hielt sich zurück. Die Tatsache, dass man sie mit dem Styx-Mädchen allein gelassen hatte, war ein Beweis für das Vertrauen, das die Styx in sie setzten. Und alles, was sie Sarah erzählt hatten, schien zu passen, schien der Wahrheit zu entsprechen. Deshalb hatte Sarah beschlossen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, zumindest vorläufig. Sie versuchte, sich wieder zu beruhigen, und holte ein paarmal tief Luft. Vorsichtig berührte sie mit der Hand ihre Kehle, tastete behutsam über die Schwellung rund um die selbst zugefügte Wunde.
Das Ganze war ziemlich knapp gewesen – sie hatte das Messer bereits in die Haut über ihrer Kehle gedrückt, mit dem verzweifelten, eisernen Entschluss, es sich bis zum Heft hineinzurammen. Doch als Joe Waites wie ein Verrückter schrie und bettelte, hatte sie innegehalten – allerdings jederzeit bereit, die Sache bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Jahrelang hatte sie mit der Gewissheit gelebt, dass die Styx sie eines Tages schnappen würden, und hatte ihren Selbstmord in der ein oder anderen Form Tausende Male in Gedanken durchexerziert.
Mit dem Messer an der Kehle und umgeben von den schweigend dastehenden Styx und Kolonisten, hatte Sarah sich angehört, was Joe und Rebecca zu berichten hatten – schließlich spielten ein paar Sekunden mehr oder weniger keine Rolle für jemanden, der sowieso schon mit dem Leben abgeschlossen hatte.
Sie hatte nichts zu verlieren, da sie sich selbst bereits abgeschrieben hatte. Ihr Tod schien unvermeidbar. Doch dann bekräftigten die Worte der beiden das, was in dem Brief gestanden hatte, und ihr Bericht klang irgendwie vertrauenswürdig. Immerhin hätten die Styx sie gleich an Ort und Stelle exekutieren können. Warum sollten sie sich also die Mühe machen, sie zu retten?
Rebecca hatte Sarah erzählt, was sich an jenem schicksalhaften Tag ereignet hatte, als Tarn sein Leben verlor. Damals hatte die Ewige Stadt unter einer undurchdringlichen Nebeldecke gelegen, und der tückische Junge, Will, hatte Feuerwerkskörper eingesetzt, um die Styx-Soldaten anzulocken. In dem darauf folgenden Durcheinander war Tarn in einen Hinterhalt geraten, irrtümlich für einen Übergrundler gehalten und getötet worden. Aber noch viel schlimmer wog das, was Rebecca noch zu berichten wusste: Es bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Will ihren Bruder höchstpersönlich mit einer Machete niedergestreckt hatte, um ihn als Köder für die Styx-Soldaten zurückzulassen. Bei diesem Gedanken kochte Sarah das Blut. Was auch immer geschehen war, Will hatte seine eigene, jämmerliche Haut gerettet und Cal gezwungen, mit ihm zu gehen.
Rebecca erzählte Sarah auch, dass
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