Tunnel - 02 - Abgrund
meinen kleinen Finger geben.«
»Nein, das ist irgendetwas anderes … etwas Süßliches«, sagte Will und holte mit einem Ausdruck äußerster Konzentration mehrmals tief Luft.
»Was auch immer es sein mag – ich schlage vor, dass wir uns nicht darum kümmern«, warf Chester ein. Er wurde zusehends nervöser und warf misstrauische Blicke um sich, sodass er wie eine herumstolzierende Taube wirkte. »Ich hab ehrlich keine Lust, auf diese Koprolithen-Dingsbums zu treffen.«
Cal drehte sich zu ihm um. »Wie oft muss ich es dir denn noch sagen? Die Koprolithen sind vollkommen harmlos. In der Kolonie haben manche Leute sogar berichtet, dass man ihnen alles wegnehmen kann … was immer man will. Das heißt, falls man sie überhaupt Findet.«
Als Chester nicht reagierte, fuhr Cal fort: »Wir müssen allem Ungewöhnlichen nachgehen. Und wenn wir diesen Geruch bemerken, dann hat Wills Vater ihn vielleicht ebenfalls wahrgenommen. Und das ist doch einer der Gründe, warum wir überhaupt hier sind, oder?«, beendete er seinen Vortrag sarkastisch. »Außerdem: Wir mussten ja auf dieser Seite des Kanals bleiben, weil du dir die Füße nicht nass machen wolltest!« Cal bückte sich, hob einen Stein auf und schleuderte ihn in die Dunkelheit, wo er mit einem lauten Platscher im Wasser landete.
»Oh Mann, du kannst einfach nicht aufhören, stimmt’s?«, stöhnte Chester.
»Na und?«, erwiderte Cal.
»Weißt du, was lustig ist? Dich hab ich auch nicht gerade aus den Klamotten und kopfüber in den Kanal springen sehen!« Chester starrte den kleineren Jungen finster an. »Wie heißt es doch so schön – mit gutem Beispiel vorangehen? Wowaren denn da deine Führungsqualitäten?«
»Was meinst du mit Führung? Wir haben keinen Anführer, wir sitzen alle im gleichen Boot.«
»Was du nicht sagst!«
»Kommt schon, Jungs«, bat Will inständig. »Hört auf damit. Wir können so was jetzt wirklich nicht gebrauchen.«
Die drei verfielen in ein bedrücktes Schweigen und setzten sich wieder in Bewegung – die Zankereien zwischen Cal und Chester waren für eine Weile ausgesetzt.
Plötzlich scherte Cal aus und steuerte senkrecht auf den Kanal zu. »Der Geruch kommt von hier drüben.«
Als der Strahl seiner Lampe einen Felsvorsprung streifte, blieb er abrupt stehen. Unter dem Vorsprung lag eine Öffnung, ein natürlich entstandener waagerechter Spalt im Gestein, wie ein überdimensionaler Briefkasten.
Während Cal und Chester in die Öffnung hineinstarrten, fiel Wills Blick zufällig auf ein Kreuz, das neben dem Felsvorsprung in den Boden gerammt war. Das Kreuz bestand aus zwei Holzlatten – bleich wie Gebeine und mit irgendetwas zusammengebunden.
»Was hat das zu bedeuten?«, wandte er sich an Cal und zeigte auf das Kreuz.
»Ich wette, das ist eine Wegmarkierung der Koprolithen«, erwiderte sein Bruder und nickte begeistert. »Wenn wir Glück haben, liegt da unten vielleicht eine ihrer Siedlungen. Und dann finden wir dort definitiv was zu essen. Wir können uns einfach bedienen, ganz wie wir wollen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, entgegnete Will kopfschüttelnd.
»Hör mal, Will, lass uns einfach weitergehen«, drängte Chester seinen Freund, während er besorgt in das Loch starrte. »Mir gefällt das Ganze nicht.«
»Dir gefällt doch gar nichts« ,fuhr Cal ihn an. »Warum bleibt ihr zwei nicht einfach hier oben, während ich mich mal umsehe«, sagte er und ließ sich sofort in die Öffnung hinab. Wenige Sekunden später rief er nach oben, er habe einen Durchgang entdeckt.
Will und Chester waren zu müde, um ihn irgendwie aufzuhalten. Sie wussten: Jeder Versuch, ihn zur Umkehr zu bewegen, würde nur zu einem weiteren Streit führen. Also folgten sie ihm widerstrebend. Als sie durch den Spalt nach unten geklettert waren, fanden sie sich in einem waagerechten Gang wieder. Cal hatte nicht auf sie gewartet und lief bereits ein ganzes Stück vor ihnen. Sie versuchten, ihn einzuholen, doch das erwies sich als ziemlich schwierig. Als sich der Gang zu einem engen Korridor verjüngte, musste Will seinen Rucksack abnehmen. Schnaufend setzte er ihn ab, neben den Rucksack seines Bruders, der ebenfalls ohne weitergekrabbelt war.
»Ich hasse das«, stöhnte Chester. Er und Will keuchten schweratmig, während sie sich vorwärts schleppten, wobei sie an manchen Stellen, an denen die Decke des Durchgangs immer niedriger wurde, auf die Knie gehen oder sogar robben mussten.
Chester kämpfte sich unter größter Anstrengung voran –
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