Tunnel - 02 - Abgrund
Macht – mit der Asiatischen Grippe und der Hongkong-Grippe.«
Erneut schlug er mit der Faust kräftig gegen die Handfläche, sodass das Klatschen seiner Lederhandschuhe über das Dach des Bauwerks schallte.
»Aber diese Epidemien sind nur ein harmloser Schnupfen im Vergleich zu dem, was kommen wird. Die Seelen der Übergrundler sind durch und durch verdorben … ihre Tugendhaftigkeit ist die von Geisteskranken … und sie ruinieren unser gelobtes Land durch ihre Verschwendungssucht und ihre Gier.
Ihre Zeit nähert sich ihrem Ende, und die Gottlosen werden vom Angesicht der Erde getilgt werden«, knurrte er wie ein verwundeter Bär und musterte jeden einzelnen seiner Männer. Dann setzte er sich erneut in Bewegung, wobei die Hacken seiner Stiefel auf dem bleigedeckten Flachdach ein klackendes Geräusch erzeugten.
»Heute werden wir nur einen abgeschwächten Stamm von Alleinherrschaft, unserer heiligen Plage, testen. Und durch die Früchte unserer Arbeit werden wir sicherstellen, dass sie über die ganze Stadt verbreitet wird, über das ganze Land und dann über die ganze restliche Welt.« Er hob die Hand und spreizte seine Finger zum Himmel. »Wenn unsere Vögel erst einmal in der Luft sind, wird die Sonne dafür sorgen, dass der Wind den Gottlosen unsere Botschaft übermittelt, eine Botschaft, die in Blut und Eiter über das Antlitz dieser Erde geschrieben sein wird.«
Beim letzten Styx in der Reihe angekommen, machte er auf dem Absatz kehrt und schritt die Männer erneut ab, bis er sich der Mitte der Reihe näherte.
»Meine Kameraden! Wenn wir uns das nächste Mal hier zusammenfinden, wird unsere Fracht tatsächlich tödlich sein. Dann werden unsere Feinde, die Übergrundler, niedergeworfen werden, so wie es im Buch der Katastrophen geschrieben steht. Und wir, die wahren Erben der Erde, werden das zurückbekommen, was uns rechtmäßig zusteht.«
Er hielt abrupt inne und wandte sich dann in einem leiseren, vertraulicheren Ton an die Styx-Truppe: »An die Arbeit.«
Sofort brach hektische Betriebsamkeit aus, als die Männer die Körbe bereit machten.
»Auf meinen Befehl!«, übernahm Rebecca nun das Kommando. »Drei … zwei … eins … und los!«, rief sie und warf ihre Taube hoch in die Luft. Sofort rissen die Styx die Körbe auf, und die Vögel stiegen flatternd auf – ein weißer Schwarm, der sich zwischen den Männern ausbreitete und dann gen Himmel flog.
Rebecca sah ihrer Taube so lange hinterher, wie sie nur konnte. Doch schon bald schlossen Hunderte weiterer Tauben zu ihr auf, sodass sie im Schwarm verschwand, der einen Moment über der Nelsonsäule zu verweilen schien und sich dann in alle Richtungen verteilte, wie eine vom Winde verwehte blasse Rauchwolke.
»Fliegt, fliegt, fliegt!«, rief Rebecca ihnen hinterher und lachte.
TEIL DREI
D RAKE UND E LLIOTT
20
»Es ist einfach schrecklich«, murmelte Chester wieder und wieder, als ihm das ungeheure Ausmaß des Geschehenen allmählich bewusst wurde. »Aber es gab nichts, was wir hätten tun können. Er hatte doch keinen Pulsschlag mehr!«
Erfüllt von einem wachsenden Schuldgefühl machte Chester sich selbst Vorhaltungen; tief in seinem Inneren glaubte er, dass er für Cals Tod irgendwie mitverantwortlich war. Vielleicht hatte er den Jungen durch seine ständige Kritik provoziert, ihn dazu angestachelt, die Kaverne so unbesonnen allein zu betreten.
»Wir konnten doch nicht zurück in die Höhle …«, plapperte Chester weiter.
Er war bis ins Mark erschüttert: Noch nie zuvor hatte er jemanden auf diese Weise sterben sehen, nicht direkt vor seinen Augen. Der Gedanke daran weckte Erinnerungen an einen furchtbaren Motorradunfall, an dem er und sein Vater kurz nach dem Sturz des unglücklichen Fahrers vorbeigekommen waren. Damals wusste er nicht, ob der gekrümmte Körper am Straßenrand tot war, doch das hier war etwas völlig anderes: Hier ging es um jemanden, den er gekannt hatte und der gestorben war, während er zusah. In der einen Minute war Cal noch da gewesen und in der nächsten war er nur noch ein schlaffer Körper. Ein toter Körper. Chester konnte es einfach nicht fassen. Das Ganze war so unumstößlich und so grausam endgültig. Es erschien ihm, als hätte er mit jemandem telefoniert und dann wäre die Verbindung unterbrochen worden – für immer.
Nach einer Weile verstummte er, während sie niedergeschlagen Seite an Seite weitergingen. Will schlurfte mit gesenktem Kopf durch den Sand und schien jeglichen Mut verloren zu haben.
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