Tunnel - 02 - Abgrund
Ohne seine Umgebung überhaupt noch wahrzunehmen, setzte er wie ein Schlafwandler mechanisch einen Fuß vor den anderen, während sie Kilometer für Kilometer am Kanal entlangtrotteten.
Chester beobachtete ihn mit wachsender Unruhe; er machte sich große Sorgen, sowohl um seinen Freund als auch um sich selbst. Wenn es Will nicht gelang, sich von diesem Schlag zu erholen, dann wusste Chester nicht, wie das Ganze weitergehen sollte. Diese unterirdische Prärie war nicht der Ort, der einem viel Spielraum ließ; hier musste man alle Sinne beieinanderhaben, wenn man überleben wollte. Falls Chester überhaupt eine Bestätigung dieser Tatsache gebraucht hatte, dann hatte der grauenvolle Anblick von Cals Ableben ihm dies ziemlich deutlich klargemacht. Doch jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu achten, dass er und Will nicht vom Kurs abkamen und sich in der Nähe des Kanals hielten, welcher nun die Richtung zu wechseln und direkt auf einen der flackernden Lichtpunkte zuzusteuern schien. Mit jeder Stunde leuchtete das Licht heller und kräftiger, wie ein Leitstern. Wohin sie das Licht führte, wusste Chester zwar nicht, aber er hatte nicht vor, den Kanal zu überqueren – jedenfalls nicht, solange Will sich in diesem Zustand befand.
Am zweiten Tag hatten sie sich der Lichtquelle so weit genähert, dass sie den flackernden Schatten erkennen konnten, den diese auf das umliegende Felsgestein warf. Offenbar hatten sie das Ende der Großen Prärie erreicht. Chester bestand darauf, dass sie stehen blieben, um die Gegend zu überprüfen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, gab er Will das Signal zum Weitergehen. Doch während er sich so leise und unauffällig wie möglich in Richtung des Lichts schlich, trottete Will einfach hinter ihm her, ohne einen Blick für seine Umgebung.
Schließlich erreichten sie die Quelle des Lichts: Aus der Felswand ragte ein etwa fünfzig Zentimeter langer Metallarm heraus, an dessen Ende eine bläuliche Flamme tanzte. Sie zischte und flackerte in der Brise, als würde sie die Anwesenheit der Jungen missbilligen. Unterhalb dieses Gaslichts führte der Kanal direkt in eine Felsöffnung hinein, die so perfekt gerundet war, dass sie von Menschen- oder zumindest Koprolithenhand geschaffen sein musste. Doch als die Jungen einen Blick in den Tunnel warfen, wurde deutlich, dass der Kanal ohne Kante oder Sims in das Gestein hineinführte und ihnen keine Möglichkeit bot, weiterhin neben ihm entlangzutrotten.
»Na, das war’s dann wohl«, murmelte Will unglücklich. »Wir sind erledigt.«
Er entfernte sich ein paar Schritte vom Kanal und ignorierte dabei ein kleines Rinnsal, das direkt neben der Tunnelöffnung aus dem Gestein quoll: Aus einer Felsspalte etwa auf Brusthöhe plätscherte Wasser, das eine flache Rille in die Höhlenwand gegraben hatte und in ein Becken aus glatt gewaschenem Gestein floss. Von dort ergoss es sich über den Rand des Beckens und über mehrere schmale Terrassen, bis es schließlich in den Kanal mündete. Das Wasser hatte das Gestein neben dem Rinnsal bräunlich gefärbt, doch das hinderte Chester nicht, eine Handvoll zu kosten.
»Das Wasser ist prima. Warum probierst du es nicht mal?«, rief er Will zu. Seit fast einem Tag war das sein erster Versuch, seinen Freund direkt anzusprechen.
»Nein, danke«, erwiderte Will missmutig und ließ sich mit einem abgrundtiefen Seufzer auf den Boden sinken. Dann zog er die Knie an, legte die Arme darum und schaukelte vor und zurück. Schließlich senkte er den Kopf, bis sein Gesicht vor Chester verborgen war.
Chester war so frustriert, dass er kurz vor dem Explodieren stand. Also beschloss er, noch einen letzten Versuch zu unternehmen, um seinen Freund zur Vernunft zu bringen.
»Okay, Will«, sagte er mit ruhiger, sorgfältig beherrschter Stimme, die dadurch alles andere als natürlich klang und Wills Aufmerksamkeit weckte. »Dann werden wir eben einfach hier sitzen, bis du dich entschließt, wieder etwas zu unternehmen. Lass dir ruhig Zeit. Es ist mir egal, ob das Tage oder sogar Wochen dauert. Nimm dir so viel Zeit, wie du willst. Mir ist alles recht.« Er blies die Backen auf und stieß dann die Luft aus. »Ehrlich gesagt: Wenn du hierbleiben willst, bis wir beide verrotten, dann soll mir das auch recht sein. Es tut mir furchtbar leid, was mit Cal passiert ist, aber das ändert nichts daran, weshalb wir überhaupt hier sind … warum du mich um Hilfe bei der Suche nach deinem Dad gebeten
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