Tunnel - 02 - Abgrund
Lächeln, das so gar nicht zu seinem breiten Gesicht passen wollte, dafür aber umso zärtlicher wirkte.
»Du musst wissen, dass wir alle vollkommen verstehen, warum du fortgegangen bist, und dass wir …«, er suchte nach den richtigen Worten, »dass wir dich nie vergessen haben … einige von uns … ich.«
Irgendwo im Gebäude fiel eine Tür laut ins Schloss, und er warf einen besorgten Blick über die Schulter.
»Danke, Joseph«, sagte Sarah, berührte ihn sanft am Arm und trottete in den Raum.
Joseph murmelte noch irgendetwas und schloss dann leise die Tür hinter ihr, wovon Sarah jedoch nichts mitbekam. Sie ließ ihre Tasche auf den Boden fallen, sank auf die Bettrolle und krümmte sich dort wie ein Embryo zusammen. Mit ausdruckslosem Blick starrte sie gegen die blank polierte Wand, die in den glatten Steinboden überging, und erkannte nach einer Weile die Konturen zahlreicher Fossilien – hauptsächlich Ammoniten und andere zweischalige Muscheln, deren subtile Spuren so aussahen, als hätte ein göttlicher Designer sie mit einem Wachsmalstift aufgetragen.
Während Sarah versuchte, ihre Gedanken und Gefühle wenigstens ein bisschen zu ordnen, ergaben die angehäuften, durcheinandergewürfelten Überreste der Fossilien, die für alle Zeiten in dieser erstarrten Haltung gefangen waren, fast schon einen Sinn für sie. Es schien, als würde sie sie plötzlich verstehen, als könnte sie in ihrem chaotischen Arrangement ein Muster erkennen, einen Chiffrierschlüssel, mit dem sich alles erklären ließ. Doch dann war der Moment der Klarheit auch schon wieder vorüber, und Sarah versank in der völligen Stille, die sie umhüllte, in einen totenähnlichen Schlaf.
19
Die ersten Strahlen der Morgensonne brachen hinter dem Horizont hervor und tauchten einen schmalen Streifen des Himmels in zarte Rot- und Orangetöne. Ihr Licht fiel flach über die Dächer, vertrieb die Dunkelheit der Nacht und verkündete den Beginn eines neuen Tages.
Weiter unten, am Trafalgar Square, setzten drei schwarze Taxen sich an einer Ampel in Bewegung, als ein einzelner Radfahrer sich rücksichtslos zwischen ihnen hindurchschlängelte. Er zischte knapp vor dem ersten Wagen vorbei, und der Fahrer musste ruckartig auf die Bremse treten, die mit einem durchdringenden Quietschen reagierte. Der Taxifahrer schüttelte die Faust und brüllte dem Radler durch das offene Fenster hinterher. Doch dieser zeigte ihm nur eine unanständige Geste und raste mit wild strampelnden Beinen in Richtung der Pall Mall davon.
Am hinteren Ende des Platzes bogen mehrere rote Doppeldecker um die Ecke und hielten an der Bushaltestelle, doch zu dieser frühen Morgenstunde beförderten sie nur wenige Passagiere. Bis zur Hauptverkehrszeit würde es noch eine Weile dauern.
»Früher Vogel fängt den Wurm«, lachte Rebecca freudlos und sondierte die Gehwege unter ihr, die nur von wenigen Fußgängern genutzt wurden.
»Ich betrachte sie nicht als Würmer – sie sind viel schlimmer, weil sie vollkommen nutzlos sind«, verkündete der alte Styx und betrachtete die Szenerie mit glitzernden Augen, die genauso wachsam schauten wie Rebeccas.
Im fahlen Licht der Morgensonne wirkte sein Gesicht bleich und hart, als wäre es aus fossilem Elfenbein geschnitzt worden. Mit seinem knöchellangen Ledermantel und den hinter dem Rücken verschränkten Händen ähnelte er einem siegreichen General, während er neben Rebecca an der äußersten Dachkante des Admiralty Arch stand. Trotz des jähen Abgrunds direkt vor ihren Füßen zeigte keiner der beiden auch nur eine Spur von Höhenangst.
»Dort unten sind diejenigen, die sich uns und den von uns geplanten Maßnahmen widersetzen würden«, sagte der alte Styx und betrachtete den Platz unter ihnen. »Du hast zwar damit begonnen, die Tiefen von den Abtrünnigen zu säubern, doch unsere Aufgabe ist damit noch nicht beendet. Sowohl hier an der Oberfläche als auch in der Kolonie, in den Elendsvierteln, gibt es reaktionäre Splittergruppen, denen gegenüber wir uns schon viel zu lange viel zu tolerant gezeigt haben. Nachdem du die Pläne deines verstorbenen Vaters vorangetrieben hast und jetzt alles so sorgfältig vorbereitet ist, können wir nun keinen Sand im Getriebe dulden.«
»Richtig«, pflichtete Rebecca ihm bei, ohne mit der Wimper zu zucken. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass in diesem Moment die Entscheidung gefallen war, mehrere Tausend Menschen zu töten.
Der alte Styx schloss die Augen – allerdings nicht, weil das
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