Tunnel - 02 - Abgrund
Gelegenheit zu einer Antwort bekam, weil Will sofort weiterredete: »Ein wirklich schönes Exemplar.« Er schaute sich um. »Dann muss hier während der letzten hundert Jahre eine ziemliche Verdunstung stattgefunden haben … es sei denn natürlich, diese Rose lag hier begraben und ist schon viel älter. Aber wie dem auch sei – ich denke, ich werde sie behalten«, fügte er hinzu und nahm seinen Rucksack herunter.
»Du willst was? Das ist doch nur ein blöder Gesteinsbrocken!«
»Nein, das ist kein Gestein, sondern eine Mineralienformation. Stell dir einfach vor, hier wäre eine Art Meer«, sagte Will und breitete die Arme aus. »Und wenn dieses Meer austrocknet, treten sämtliche Salze aus und … na ja, die Überreste davon siehst du hier, als Sediment. Du weißt doch, was Sedimentgestein ist, oder?«
»Nein, weiß ich nicht«, sagte Chester und musterte seinen Freund zweifelnd.
»Also, es gibt drei verschiedene Gesteinsarten: Sedimentgestein, Erstarrungsgestein und metamorphes oder Umwandlungsgestein«, schwafelte Will weiter. »Ich mag am liebsten Sedimentgestein, so wie wir es hier vorfinden, weil es eine Geschichte enthält … von den darin eingelagerten Fossilien. Sedimentgestein bildet sich …«
»Will«, sagte Chester leise.
»… normalerweise an der Erdoberfläche, meistens unter Wasser. Ich frage mich, warum wir so tief in der Erde ein derartiges Gestein antreffen.« Perplex schaute er sich um, beantwortete dann aber seine eigene Frage. »Ja, genau, ich vermute, dass es hier unten einmal einen unterirdischen See oder so was gegeben hat.«
»Will!«, versuchte Chester es erneut.
»Na egal. Sedimentgestein bezeichnet man auch als Ablagerungs- oder Schichtgestein … aber verwechsle das bitte nicht mit Lavaschichten, weil das nämlich Erstarrungsgestein ist, das …«
»Will, hör auf!«, rief Chester, da ihn das bizarre Verhalten seines Freundes zunehmend beunruhigte.
»… man in Tiefen- und Ergussgestein unterteilt, je nachdem, wo das heiße Magma …« Will brach mitten im Satz ab.
»Reiß dich zusammen, Will. Wovon redest du überhaupt?« Chesters Stimme klang vor Verzweiflung ganz heiser. »Was ist mit dir los?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Will kopfschüttelnd.
»Na, dann halt einfach den Mund und konzentrier dich auf das, was wir hier gerade machen. Ich brauch keine blöde Lektion über Gesteinsarten.«
»Okay.« Will schaute sich blinzelnd um, als wäre er durch eine Nebelbank gelaufen und wüsste nun nicht, wo er war. Als ihm bewusst wurde, dass er die Sandrose noch immer in der Hand hielt, warf er noch einen kurzen Blick darauf und schleuderte sie dann fort. Anschließend hievte er sich den Rucksack erneut auf die Schultern und setzte sich wieder in Bewegung, während Chester ihn besorgt musterte.
Sie näherten sich nun der Kuppe des Hangs und der Boden wurde langsam wieder flacher. Plötzlich entdeckte Chester einen Lichtstrahl, der durch die Luft schnitt und sich quer über die Höhlendecke fortsetze. Er sah aus wie eine Art Scheinwerferlicht. Obwohl Chester wusste, dass die Lichtquelle ziemlich weit weg sein musste, dimmte er das Licht seiner Lampe vorsichtshalber zu einem schwachen Schein und zwang auch Will, es ihm gleichzutun.
Das letzte Stück legten sie gebückt zurück, wobei Chester darauf achtete, dass Will sich – in seinem unberechenbaren Geisteszustand – hinter ihn duckte. Oben angekommen, warf Chester einen vorsichtigen Blick über die Kuppe, hinter der sich ein großer, kreisförmiger Talkessel von der Größe eines Stadions öffnete. Das Ganze erinnerte an einen Mondkrater, so karg und staubig sah es aus.
»Oh Mann, Will, sieh dir das an«, flüsterte Chester und winkte seinen Freund zu sich heran, während er gleichzeitig hastig seine Lampe ausschaltete. »Die Gestalten da unten, die sehen genauso aus wie die Styx, aber sie tragen Soldatenuniformen oder so was.«
Am Grund des Kraters konnten die Jungen etwa zehn Styx ausmachen. Trotz der ungewohnten Kleidung waren ihre hageren Körper und ihre arrogante Haltung so typisch, dass es sich um niemand anderes handeln konnte. Zwei von ihnen führten Spürhunde an der Leine. Die Männer hatten sich in einer Reihe aufgestellt, wobei ein weiterer Styx leicht abseits stand und eine große Laterne schwenkte. Obwohl der Krater von vier großen Leuchtkugeln auf Stativen ausgeleuchtet wurde, erzeugte die Laterne in der Hand des abseits stehenden Styx einen enorm starken Lichtstrahl, den er nun auf irgendetwas vor
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