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Turils Reise

Turils Reise

Titel: Turils Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marcus Thurner
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sagte er leidenschaftslos. »Dein Schiff erhebt schwerwiegende Vorwürfe.«
    »Ich werde mich zu gegebener Zeit meiner Verantwortung stellen.« Turils Rücken schmerzte mehr als sonst. »Bin ich zum Großen Thang zugelassen, oder will man mir schon zuvor den Prozess machen?«
    »Du kennst das Prozedere. Zuerst die Strafe. Dann das Fest.« Armain hatte noch kein einziges Mal geblinzelt. Der alte Schiffswärter galt als eiserner, erzkonservativer Verfechter ihrer Rituale. Selbst seine Atemzüge erfolgten mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit, und seine Bewegungen ähnelten jener einer gut geölten Maschine.
    »Wann beginnt das Große Thang, Schiffswärter?«

    »Wir warten auf Nachzügler, vierzehn an der Zahl. Wir schieben noch eine Ruheperiode ein.«
    So etwas wie Bedauern war in seiner Stimme zu hören. Das Protokoll sah einen Beginn des Großen Thang noch für diese Arbeitsperiode vor. Sicherlich empfand Armain Ärger über eine unplanmäßige Verzögerung, und die Nachzügler würden dafür bezahlen müssen.
    »Das Gremium empfiehlt dir, zuallererst Nochoi und dann deinen Eltern Ehrerbietung zu erweisen. Kakari und Pschoim wurden von deiner Ankunft informiert. Es wurde dir ein Weg durch Grau zugewiesen. Verlasse ihn auf keinen Fall.« Armain reichte ihm einen Lichtwurm , ein Fünkchen neuerer Generation, dessen emotioneller Status beständig kontrolliert und gegebenenfalls reguliert wurde.
    »Danke sehr.« Turil verbeugte sich einmal mehr und zögerte. Sollte er sich dem Alten mitteilen und ihm sagen, was für ein böses Spiel die GELFAR trieb? Würden ihn die anderen Thanatologen schützen, und - vor allem - würde die Hilfe rasch genug kommen, bevor ihn der Zeremonienmantel zum Schweigen brachte?
    »Ich spüre, dass du etwas vorhast«, flüsterte ihm die GELFAR zu. »Lass es bleiben. Tu, was ich dir sage, dann wirst du dein erbärmliches Leben behalten.« Das Leder des Mantels zog sich ein wenig enger um ihn.
    Wut wallte in Turil auf. Sie war so heftig, so intensiv, dass selbst die Schiffssphäre vor dieser Glut in ihm zurückschreckte. Das Gewand lockerte sich ein wenig, ließ ihm wieder Luft zum Atmen.
    Hatte die GELFAR tatsächlich Angst vor ihm?
    Der Gefühlssturm in Turil legte sich rasch wieder. Die Kraft, die diesen heftigen Emotionsschub ausgelöst hatte, war verschwunden. Verzweifelt versuchte er, sich an sie zu
erinnern und sie zu bewahren. Sie versprach Hilfe in diesem stummen, erbarmungslosen Kampf gegen die GELFAR.
    Vergeblich.
    Armain entfernte sich, den starren Blick in eine weite Ferne gerichtet. Die Chance, sich ihm mitzuteilen und vom Plan der GELFAR zu berichten, war vertan.
    Und dennoch: »Du glaubst, mich dirigieren zu können«, sagte er zum Mantel, »aber du täuschst dich. Ich bin weitaus stärker, als du annimmst.«
    Die GELFAR antwortete nicht.
     
    Turils Schritte hallten von den kahlen Wänden des endlos langen Ganges wider. Der Weg, den ihm der Lichtwurm wies, verband die Andockstation mit dem eigentlichen Gebäudekonvolut von Friedenshof Grau. Geheimnisvolles Gewisper begleitete ihn, doch niemand war zu sehen. Nur ab und zu trafen ihn Lichtreflexe. Kreavatare zogen rastlos umher; bisweilen schienen sie untereinander Kämpfe auszutragen. Wie auch in den Schiffen hatten sich in den drei über den Kahlsack verteilten Anlaufstellen der Totengräber die Erinnerungen von Toten eingenistet. Sie erzählten von ihrem Leben und von ihrem Sterben, von ihrer Verzweiflung und der oft gehegten Hoffnung, dass sie lediglich träumten und irgendwann wieder aufwachen würden. Sie alle suchten nach dem einen, einzigen Eingang zur Stadt des Gesternmorgen, der von Archivar-Thanatologen bewacht wurde.
    Turil kannte diese Stätte nur vom Hörensagen. Die Stammväter ihres Volkes hatten die Nekropole entworfen, gestaltet und in eine der vielen Hallen des Friedenshofes gepfropft. Sie stand unter einem energetischen Glassturz
und durfte stets nur von den namhaftesten Totengräbern ihrer Zeit betreten werden. Dort, in diesem verwinkelten Wirrwarr, lebten Legionen von Kreavataren. Die energetische Streustrahlung, die in der Stadt wirkte und stets für einen chamoisfarbenen Lichterschein sorgte, erlaubte es den Erinnerungsmatrizen, sich gegenseitig zu ertasten, zu spüren, einen Zipfel der Wirklichkeit zu erhaschen. Sie erhielten das Gefühl von Körperlichkeit zurück und durften wieder zu dem werden, was sie einstmals gewesen waren. Im Gegenzug dienten sie den Thanatologen des Gremiums bei vielfältigen

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