Turils Reise
Willst du riskieren, deine Identität zu verlieren?«
»Eine Identität, die mir aufgezwungen wurde«, entgegnete Turil. »Ich muss wissen, was ich einmal war. Erst dann kann ich entscheiden, auf welcher Seite ich stehe.«
»Die Kitar kennen keine Rücksicht, kein Gewissen. Willst du so wie sie werden? Willst du gemeinsam mit ihnen durch den Kahlsack ziehen und Zerstörung säen? Denk an all die vernichteten Welten, an die Toten … Die Ideen, die hinter ARMIDORN stehen, mögen dir naiv vorkommen, und viele der Mitglieder stehen ihnen mit einer gehörigen Portion Zynismus gegenüber. Aber es sind die richtigen Ideen.«
»Spiel mir kein Theater vor, Ofenau! Du, Sorollo und Kix Karambui, ihr seid um nichts besser als die Thanatologen! Ihr wollt über mich an die Kitar herankommen, und was mit mir geschieht, das kann euch einerlei sein.«
»Es stimmt. Wir möchten, dass du uns die Kitar ans Messer lieferst. Aber nicht um jeden Preis.« Ofenau sagte es mit der gicksenden Stimme seines Gate-Modus.
Turil wusste nichts darauf zu erwidern. Er war sich der Gefahren bewusst; vielleicht verlor er seine Identität und wurde zu etwas ganz anderem. Doch er konnte den Verlockungen des Szeptinats nicht länger widerstehen.
»Ich bitte euch zu gehen«, sagte er zu den beiden Xeniathen. »Die GELFAR wird für euch sorgen. Ich melde mich bei euch, sobald es … vorüber ist.«
Ofenau und Sorollo drehten sich wortlos um und verließen das Reflektorium. Sie gingen im Gleichschritt. Wie aufeinander abgestimmte Maschinen. Ihre Hände fanden sich wie zufällig. Turil begriff: Selbst die beiden Xeniathen hatten Angst.
Er wartete, bis das Echo ihrer Schritte im Raum verklungen und Ruhe eingekehrt war. Dann griff er vorsichtig nach dem Szeptinat. Die GELFAR hatte es in einem Ultraschallbad von all den Ablagerungen befreit, aber auf seinen Wunsch hin keinerlei Messungen vorgenommen.
Seine Hände waren schweißnass, das Szeptinat hingegen fühlte sich warm und anschmiegsam an. Es vermittelte ihm so etwas wie beruhigende Impulse, während es sich allmählich auf ihn einpendelte und in seinen Verstand vordrang.
Das ist deine letzte Chance, es zu lassen!, warnte ihn ein kleiner Teil seines Selbst. Vielleicht bleibst du glücklicher, wenn du das Geheimnis der Kitar niemals lüftest.
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden.
Turil griff entschlossen zu, widerstand den Verlockungen des Szeptinats nicht länger - und wurde wieder zu dem Geschöpf, das er einstmals gewesen war. Queresma erwachte endgültig.
26 - DAS BEZOAR
Sie nannten sich Marime, und sie waren ein Volk, das auf eine einzige Aufgabe eingeschworen war: Sie wachten über den Kahlsack und dessen Probanden, wie es auch die Schiffssphären, deren Lenker, die Refraktos und jene unbekannten Wesen taten, von denen sie bislang nur gerüchteweise gehört hatten. Jeder Marime kannte seinen Platz, seine Pflichten und Aufgaben. Und solange sie ganz waren, konnte ihnen nichts geschehen. In unregelmäßigen Abständen, wenn die naturgewollte Kraft in ihnen zu groß wurde und sich als allumfassende Zorneswelle manifestierte, trafen sie sich im SECHSEN. Dann trieben sie bar allen Schutzes dahin, mussten nicht mehr auf Organe, semimanifeste Körperteile oder metallene Raumschiffhüllen Rücksicht nehmen und waren nur noch glücklich. Im SECHSEN waren sie sich ganz nah. Ihre Individualität verschwand. Sie waren Gleiche unter Gleichen; eine Masse ineinander verklumpter Marime, die sich gegenseitig all das schenkten, was sie entbehren mussten, wenn sie getrennt von den anderen waren.
Nur einer von ihnen musste sich seine Eigenarten bewahren: Er bestimmte, wann das SECHSEN zu Ende war, er schickte sie zurück in ihre Hüllen, er gab ihnen jene Befehle, ohne die sie hemmungslos glücklich ineinander verkeilt geblieben wären, bis ans Ende aller Zeiten.
Sie liebten und sie hassten diesen Queresma, den einzigen
Marime, der seinen Eigennamen behalten durfte. Sie umsorgten und pflegten ihn, und sie verachteten ihn, wenn er sie aus dem SECHSEN riss, damit sie ihren Aufgaben wieder nachkamen. Queresma war das Bezoar ihres SECHSEN-Leibes; eine substanzielle Auswahl dessen, was sie an Ideen und Anweisungen in sich trugen.
Wenn Queresma starb, wurde ein neuer Marime auserkoren, dieses Amt zu übernehmen. Es hatte immer nur einen gegeben, und unter welch merkwürdigen Umständen der letzte Queresma im SECHSEN erdrückt worden und sein Nachfolger verlorengegangen
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