Turm der Hexer
werden, um mit ihr Schritt zu halten. Es gab einen entscheidenden Punkt, an dem die Neugier auf sie befriedigt werden mußte, oder das Ganze würde zusammenbrechen und sie mußten wieder ganz von vorn beginnen.
Die Menschenmenge in Vo Wacune war die größte, zu der sie bislang gesprochen hatte. Schon halb überzeugt, brauchten sie nur noch einen Funken, der sie entflammte. Wieder einmal krank vor unsinniger Angst, sammelte die Rivanische Königin ihre Kräfte und erhob sich, um zu ihnen zu sprechen und sie mit ihrem Kriegsaufruf zu entfesseln.
Als es vorüber war und die jungen Edelmänner in die wachsende Armee eingereiht waren, suchte Ce’Nedra für kurze Zeit Ruhe am Rand des Lagers, um wieder zu sich zu kommen. Dies war zu einem notwendigen Ritual für sie geworden. Manchmal war ihr nach einer Rede übel, manchmal weinte sie. Manchmal wanderte sie einfach teilnahmslos umher, ohne auch nur die Bäume um sich herum wahrzunehmen. Auf Polgaras Befehl hin begleitete Durnik sie stets, und Ce’Nedra fand die Gesellschaft dieses soliden, praktischen Mannes seltsam tröstlich.
Sie waren ein Stück über die Ruinen hinausgegangen. Der Nachmittag war schön und sonnig, und in den Bäumen sangen die Vögel. Nachdenklich ging Ce’Nedra weiter und ließ die Steine des Waldes ihr aufgewühltes Inneres beruhigen.
»Für Edelleute ist es ja schön und gut, Detton«, hörte sie jemanden auf der anderen Seite eines Gebüschs sagen, »aber was hat das mit uns zu tun?«
»Wahrscheinlich hast du recht, Lammer«, stimmte eine zweite Stimme mit einem bedauernden Seufzer zu. »Trotzdem war es sehr aufrüttelnd, nicht wahr?«
»Das einzige, was einen Leibeigenen aufrütteln sollte, ist der Anblick von etwas Eßbarem«, erklärte der erste Mann bitter. »Das kleine Mädchen kann soviel von Pflicht reden, wie es will, aber meine einzige Pflicht betrifft meinen Magen.« Er hielt abrupt inne. »Kann man die Blätter von dem Busch da drüben essen?« fragte er.
»Ich glaube, sie sind giftig, Lammer«, antwortete Detton.
»Aber du weißt es nicht genau? Ich hasse es, etwas Eßbares stehenzulassen wenn auch nur die kleinste Chance besteht, daß es nicht tödlich ist.«
Ce’Nedra lauschte den beiden Leibeigenen mit wachsendem Entsetzen. Konnte jemand wirklich so leben? Impulsiv ging sie um das Gebüsch herum, um ihnen gegenüberzutreten. Durnik blieb wie immer dicht bei ihr.
Die beiden Leibeigenen waren in schlammverkrustete Lumpen gehüllt. Sie waren mittleren Alters, und auf ihren Gesichtern war keine Spur davon zu finden, daß sie je einen glücklichen Tag erlebt hatten. Der dünnere der beiden untersuchte sorgfältig eine Pflanze mit fleischigen Blättern, aber der andere sah Ce’Nedra kommen und erstarrte vor Furcht. »Lammer«, keuchte er, »Sie ist es… die heute gesprochen hat.«
Lammer richtete sich auf, sein mageres Gesicht wurde unter der Schmutzschicht blaß. »Meine Dame«, sagte er mit dem grotesken Versuch einer Verbeugung. »Wir sind nur auf dem Rückweg in unsere Dörfer. Wir wußten nicht, daß dieser Teil des Waldes Euch gehört. Wir haben nichts genommen.« Er streckte ihr die leeren Hände entgegen, um seine Worte zu bekräftigen.
»Wie lange ist es her, daß ihr etwas gegessen habt?« fragte ihn Ce’Nedra.
»Ich habe heute morgen etwas Gras gegessen, meine Dame«, antwortete Lammer, »und gestern ein paar Zwiebeln. Sie waren etwas wurmig, aber nicht allzu schlimm.«
Plötzlich füllten sich Ce’Nedras Augen mit Tränen. »Wer hat euch das angetan?«
Lammer sah auf ihre Frage hin etwas verwirrt aus.
Schließlich zuckte er die Achseln. »Die Welt, denke ich, meine Dame. Ein bestimmter Teil von dem, was wir ernten, geht an unseren Herrn, ein anderer Teil wieder an seinen Herrn. Dann ist da noch der Teil des Königs und der des königlichen Verwalters. Und wir zahlen immer noch für ein paar Kriege, die mein Herr vor ein paar Jahren geführt hat. Nachdem wir das alles bezahlt haben, bleibt für uns nicht mehr viel übrig.«
Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte sie. »Ich sammle eine Armee für einen Feldzug gegen den Osten«, erzählte sie.
»Ja, meine Dame«, erwiderte Detton, der andere Leibeigene, »wir haben heute Eure Rede gehört.«
»Was wird das für euch bedeuten?«
Detton zuckte die Achseln. »Es bedeutet höhere Steuern, meine Dame und einige unserer Söhne werden uns als Soldaten weggenommen, wenn unsere Herren sich entscheiden, sich Euch anzuschließen. Leibeigene geben zwar keine guten
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