Turm der Hexer
preisgegeben hatte, war Prinzessin Ce’Nedra leichenblaß aufgesprungen, die Augen weit aufgerissen in völliger Bestürzung. Sie hatte sofort etwas begriffen, das ihm entgangen war. Etwas so Erschütterndes, daß ihr die Farbe aus dem Gesicht wich und sie auf die Beine sprang, um ihn mit einem Ausdruck absoluten Entsetzens anzustarren. Dann entrang sich den Lippen der kaiserlichen Prinzessin Ce’Nedra ein Schrei der Wut und des Protestes. Mit einer Stimme, die durch die Halle gellte, rief sie: »O NEIN!«
12
D as schlimmste war, daß sich ständig Leute vor ihm verbeugten. Garion hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Sollte er sich auch verbeugen? Sollte er anerkennend nicken? Oder war es vielleicht besser, alles zu ignorieren und so zu tun, als hätte er es nicht gesehen? Aber was sollte er tun, wenn ihn jemand ›Eure Majestät‹ nannte?
Die Ereignisse des vorigen Tages waren immer noch ein verwirrendes Durcheinander für ihn. Er konnte sich wohl daran erinnern, dem Volk der Stadt vorgestellt worden zu sein auf den Wehrgängen von Eisenfausts Zitadelle stehend, die riesige, jubelnde Menge unter sich und das große, scheinbar gewichtslose Schwert in Händen. So überwältigend sie waren, die äußeren Geschehnisse des Tages waren unwichtig im Vergleich zu den Dingen, die auf einer anderen Wirklichkeitsebene stattfanden. Gewaltige Kräfte hatten sich auf den Moment der Enthüllung des Rivanischen Königs konzentriert, und Garion fühlte sich noch immer ganz betäubt nach dem, was er in dem blendenden Augenblick gesehen und wahrgenommen hatte, als er endlich entdeckt hatte, wer er war.
Endlose Gratulationen und unzählige Verbeugungen für seine Krönung hatte es gegeben, aber all das verschwamm in seinen Gedanken. Auch wenn sein Leben davon abgehangen hätte, er wäre nicht imstande gewesen, einen vernünftigen, zusammenhängenden Bericht von den Ereignissen des Tages zu geben.
Der heutige Tag versprach sogar noch schlimmer zu werden, falls das überhaupt möglich war. Er hatte nicht gut geschlafen. Das große Bett in den königlichen Gemächern, zu denen er letzte Nacht geleitet worden war, war ausgesprochen unbequem. An jeder Ecke erhob sich ein großer, runder Pfosten, und er war verhängt mit purpurnem Samt. Es war viel zu groß für ihn und entschieden zu weich. Seit über einem Jahr hatte er meistens auf dem Boden geschlafen, und die daunengefüllte Matratze des königlichen Bettes war zu nachgiebig, um bequem zu sein. Darüber hinaus hatte er noch die sichere Gewißheit, daß er der absolute Mittelpunkt war, sobald er aufstand. Alles in allem, dachte er, wäre es vielleicht einfacher, im Bett zu bleiben. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Die Tür des königlichen Schlafgemachs war jedoch nicht verschlossen. Nicht lange nach Sonnenaufgang öffnete sie sich, und Garion konnte hören, wie jemand umherging.
Neugierig spähte er durch die dunkelroten Vorhänge, die sein Bett umschlossen. Ein ernst wirkender Diener zog geschäftig die Vorhänge vor den Fenstern zurück und fachte das Feuer an. Garions Aufmerksamkeit wurde jedoch sogleich von dem großen, zugedeckten Silbertablett gefesselt, das auf einem Tisch vor dem Kamin stand. Seine Nase erkannte Würstchen und warmes, frisches Brot und Butter, es war ganz bestimmt Butter auf dem Tablett. Sein Magen begann sich bemerkbar zu machen. Der Diener überzeugte sich, daß alles im Zimmer in Ordnung war, dann kam er mit einer Miene auf das Bett zu, die deutlich besagte: »Kein Unsinn jetzt.« Garion tauchte rasch wieder unter die Decken.
»Frühstück, Eure Majestät«, verkündete der Diener entschieden und zog die Vorhänge auf.
Garion seufzte. Offensichtlich lag die Entscheidung, im Bett zu bleiben, nicht bei ihm. »Danke«, antwortete er.
»Wünscht Eure Majestät noch etwas?« fragte der Diener eifrig, während er ihm ein Gewand hinhielt, das er anziehen sollte.
»Äh, nein, im Moment nicht, danke«, erwiderte Garion, kletterte aus dem königlichen Bett und die drei Stufen hinab, die dorthin führten. Der Diener half ihm in das Gewand, verbeugte sich dann und verließ das Zimmer. Garion ging zum Tisch, setzte sich und sprach herzhaft seinem Frühstück zu.
Als er seine Mahlzeit beendet hatte, blieb er noch lange in dem großen, blaugepolsterten Sessel sitzen und blickte aus dem Fenster auf die verschneiten Klippen, die die Stadt überragten. Der Sturm, der tagelang an der Küste getobt hatte,
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