Turm der Lügen
Jeanne und Séverine warfen sich über die Köpfe der Kinder einen fragenden Blick zu. Beide wussten, dass Eilkuriere nur wichtige Nachrichten überbrachten, und die waren in diesen Tagen selten erfreulich. Die überstürzte Rückkehr Mahauts bestätigte die Ängste.
Sie kämpfte vor den Kleinen um Haltung und schickte auf der Stelle nach der Kinderfrau. Jacquemine beaufsichtigte gerade im Nebenzimmer zwei Mägde beim Nähen. Sie holte die Kleinen ab.
»Kümmere dich um meine Enkeltöchter«, befahl Mahaut schroff und berichtete: »Die Neuigkeiten sind so ungeheuerlich, dass sich in mir alles sträubt, sie auszusprechen. Der Kurier kommt von Philippe. Eure Base Marguerite ist tot.«
»Marguerite?«, wiederholte Jeanne ungläubig.
Mahaut ging erregt auf und ab.
Jeanne war dermaßen entsetzt, dass sie nichts sagen konnte. Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge: Marguerite in Goldbrokat und Seide gehüllt, ein spöttisches Glitzern in den dunklen Augen, den vollen roten Mund zum Lächeln gebogen. Die Königin von Navarra, der die Bewunderer wie ein Kometenschweif folgten. Dann die Verurteilte von Maubuisson, den Kopf geschoren und die Lippen verächtlich gekräuselt. Noch im Elend zu stolz, das eigene Entsetzen zu zeigen.
»Wie ist das möglich?«, stammelte sie schließlich. »Woran ist sie gestorben? Kälte? Einsamkeit? Hunger?«
»Am Hass des Zänkers!«, schrie Mahaut völlig außer sich. »Zur Hölle soll er fahren, dieser Elende. Wie kann er es wagen, Hand an eine Frau aus unserer Familie zu legen? An eine Frau von königlichem Blut?«
»Louis soll ihren Tod befohlen haben?« Jeanne schüttelte fassungslos den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Dein alter Fehler«, erwiderte Mahaut gallig. »Du glaubst nie, dass die Menschen so sind, wie sie sind. In Paris geht das Gerücht, man habe sie auf Befehl des Zänkers mit ihrem eigenen Haar erdrosselt.«
Mahaut war wieder die Alte, so kannten sie sie alle. Sie spuckte Gift und Galle.
»Was für ein Unsinn«, rief Séverine dazwischen, ehe Jeanne die Ungeheuerlichkeit in letzter Konsequenz begreifen konnte. »Man hat Marguerite, Blanche und Jeanne das Haar gleichzeitig abgeschnitten. Wie kann man jemanden mit Locken erdrosseln, die kaum bis zur Schulter reichen? Wer erzählt solche Lügen? Was steckt dahinter?«
Die Logik ließ alle erst einmal verstummen.
»Marguerite hat sich der Scheidung von Louis widersetzt. Damit hat sie ihr Todesurteil selbst gesprochen«, vermutete Mahaut endlich. Sie nahm wieder in einem Lehnstuhl Platz. »Philippe schreibt, dass Louis seine Hochzeit mit Clementia von Ungarn feiern will, ehe er zum Feldzug nach Flandern aufbricht. Er hat auf der Stelle nach Neapel schicken lassen, damit die Braut so schnell wie möglich nach Frankreich kommt.«
»Und was ist mit Blanche, Mutter? Hat Philippe etwas von ihr berichtet?«
»Nein, sie ist offensichtlich ohne die geringste Bedeutung für die Ereignisse.«
»Wann ist das geschehen?« Séverine trat näher zu Jeanne. Gemeinsam fühlten sie sich stärker.
»Der Burghauptmann von Château Gaillard meldet, dass man Marguerite am Morgen des letzten Apriltages tot gefunden habe. Angeblich ohne jedes Zeichen äußerer Gewalteinwirkung. Vermutlich deckt man den Mörder auf höchsten Befehl. Marguerite wurde auf dem Friedhof in Vernon, ohne die Ehrenerweisungen, die ihr zustehen, in aller Eile begraben. Blanche ist jetzt die einzige Gefangene in Château Gaillard.«
Grausame Erinnerungen überfielen Jeanne. Nie würde sie die schreckliche Einsamkeit der Wochen in Dourdan vergessen können, die sie vor Séverines Eintreffen erduldet hatte.
»Der Zänker macht keinen Hehl daraus, dass er über den Tod Marguerites erleichtert ist.« Mahaut hatte ihren ersten Schock überwunden. »Ich kann mir denken, wer Jeannes Mörder ist. Artois, mein übler Neffe.«
»Du verdächtigst wirklich unseren Cousin Artois?« Jeanne schüttelte ungläubig den Kopf.
Mahaut lachte bitter.
»Philippe schreibt weiter, dass Charles von Valois ihm seine 12 -jährige Tochter Jeanne zur Ehefrau gibt. Dreimal darfst du raten, wer sich diesen Handel ausgedacht hat und wer am meisten davon profitiert. Unser allergnädigster Herr und König.«
»Und Blanche? Was wird mit ihr geschehen?«
»Der Zänker sieht keinen Anlass, sie zu begnadigen. Der Himmel wird ihn dafür strafen. Bei Gott, Marguerite war kein Engel, aber ein solches Ende hat sie nicht verdient.« Mahaut verstummte.
»Sie hat das Ende verdient.« Séverine
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