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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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den Saal, um frische Luft zu schnappen.
    Seit Stunden fieberte sie dem Wiedersehen mit Adrien entgegen. Aber das Gespräch, das sie erst gestern mit Jeanne geführt hatte, trug nicht dazu bei, dass sie sich unbeschwert darauf freuen konnte.
    »Sei vorsichtig, Séverine. Stoße Mutter um Himmels willen nicht mit der Nase darauf, dass du Adrien liebst. Wir müssen erst einmal herausfinden, wie sie zu ihm steht. Adrien weiß mehr über sie, als ihr lieb sein kann«, hatte sie sie gemahnt.
    Séverine nahm nicht an, dass Mahaut ihr Leben tatsächlich bedrohte. Sie selbst stellte vielmehr eine Herausforderung für ihre Mutter dar. Im Bemühen, ihre Zuneigung zu erringen, ersann Mahaut sogar immer neue Gründe, sie zu sprechen und für sich einzuspannen. Je hartnäckiger Séverine ihr dabei jede Anerkennung verweigerte, umso heftiger warb sie um ihre Gefühle. Sie ging Mahaut zwar, so weit es möglich war, aus dem Wege, aber die Situation spitzte sich zu. Dies hatte nicht nur Jeanne erkannt.
    »Da seid Ihr ja endlich. Ich habe Euch gesucht.«
    Julien hatte sie gefunden und riss sie aus ihren Überlegungen. Inzwischen waren ihm keine Verletzungen mehr anzusehen. Wie sehr es ihm gefiel, wieder im Dienst seines Herrn zu sein, las sie in seinem Gesicht.
    »Der Seigneur hat überall nach Euch Ausschau gehalten. Er lässt …«
    »Die Gräfin hat Euch vermisst.« Die Ehrendame Elaine hatte sie ebenfalls gesucht. Sie ignorierte den Knappen und ergriff Séverines Handgelenk. »Euer Platz ist drinnen. Kommt mit.«
    Es klang energisch. Elaine bildete sich irrtümlich ein, Mahauts Vertraute zu sein. Für sie war Séverine eine arme Verwandte des verstorbenen Pfalzgrafen. Aus Barmherzigkeit in den Haushalt aufgenommen, hatte sie nach Elaines Meinung in erster Linie zwei Pflichten: gehorchen und schweigen.
    Mahaut hatte mit der Erklärung Séverines Ähnlichkeit mit Jeanne begründet, aber keine zusätzlichen Einzelheiten verraten.
    Séverine kümmerte es wenig, was die Ehrendame von ihr dachte. Sie befreite sich von ihr, sobald sie den Festsaal betraten, und wandte sich auf der Suche nach einem freien Platz der Tafel zu.
    »Erlaubt, dass ich Euch zu Tisch begleite.«
    Immer tauchte er überraschend auf. Sie sah den ausgestreckten Arm und erkannte die vertraute Hand. Adrien! Ihr Herzschlag setzte aus.
    Obwohl sie sich jedes Wort zurechtgelegt hatte, das sie ihm beim Wiedersehen sagen wollte, brachte sie jetzt keine Silbe über die Lippen.
    Er ergriff, im Brennpunkt der neugierigen Blicke, diskret ihren Arm und führte sie zu Tisch. Erst als sie nebeneinandersaßen, grüßte er sie, wobei sein Lächeln ihr eigenes Glück spiegelte.
    »Wie geht es dir?«, flüsterte er.
    »Es geht mir gut«, erwiderte sie kaum hörbar.
    »Ich werde mich gründlich davon überzeugen.«
    Séverine errötete bis unter die Haarwurzeln.
    Weder die Köstlichkeiten auf ihrem Essbrett nahm sie wahr, noch was die Menschen um sie herum sagten.
    Mahaut, die soeben eine gebratene Wachtelbrust mit einem Silbermesser zerteilte, hielt mitten in der Bewegung inne und beugte sich leicht vor.
    Sie beobachtete Séverine. Dass es ihr bisher nicht gelungen war, dieser fremden Tochter nahezukommen, reizte sie. Nicht einen Hauch von Gefühl zeigte das Mädchen ihr gegenüber. Allein Jeanne und ihren Kindern war sie zugetan. Das nie gesehene Leuchten in Séverines Augen erregte ihre Aufmerksamkeit und setzte Vermutungen in Gang. Es ließ nur einen Schluss zu: Séverine liebte Adrien Flavy. Und es bestand auch kein Zweifel, dass der Mann dieses Gefühl erwiderte.
    Gab es also doch eine schwache Stelle in der Mauer, die Séverine um sich errichtet hatte. Zufrieden die Wachtel von sich schiebend, griff Mahaut nach ihrem Becher. Sie trank den schweren Burgunder wie Quellwasser, ehe sie herrisch einen Pagen zum Nachfüllen herbeiwinkte.
    Etwas an dieser Tochter faszinierte sie. Séverine war furchtlos, ja, mutig sogar und … unbeugsam. Das sind männliche Stärken, sagte sie sich immer wieder. Schade, dass sie kein Sohn geworden war.
    Sie erinnerte sich plötzlich wieder ihres verstorbenen Gemahls. Der Herr von Salins und Pfalzgraf der Franche-Comté war von imponierender Gestalt gewesen. Mit fünfzehn Jahren war sie seine zweite Gemahlin geworden, mit dreiunddreißig Witwe. Nach ihm erlaubte sie keinem anderen Mann mehr, über ihr Leben zu bestimmen.
    Adriens Vater war das Opfer dieses Entschlusses geworden. Obwohl sie ihm sehr zugetan gewesen war, hatte sie nicht einmal an

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