Turm der Lügen
zur Tür.
»Ich beeile mich. Wir können vor dem Schließen der Tore aufbrechen.«
Ihre polternde Stimme hatte Louis zum Schweigen gebracht. Jetzt betrachtete er seinen Vater aus großen, dunkelblauen Augen.
»Gott schütze dich, mein Sohn.« Philippe küsste ihn auf die Stirn und reichte das Kind an seine Frau weiter. »Achte auf ihn, liebste Jeanne. Ihm darf kein Leid geschehen.«
Er strich seinen Mädchen über den Kopf, gab Jeanne einen Kuss auf die Stirn, bedachte Séverine mit einer höflichen Verneigung und ging. Stille blieb zurück.
In die Stille hinein vernahmen Séverines scharfe Ohren plötzlich lauter werdende Rufe auf der Straße. Dann kam das Läuten der Kirchenglocken dazu, einsetzender Jubel. Die Pariser feierten die Nachricht von der Geburt des Königssohnes.
»Clementia wird überglücklich sein«, stieß Jeanne mit einem kleinen Seufzer aus. »Ich bin neugierig, was Philippe erzählt, wenn er zurückkommt.«
Jacquemine wollte wissen, was in Jeanne vor sich ging, als Séverine die Mädchen zu ihr brachte.
»Was sagt sie zu den Neuigkeiten aus Vincennes? Ist sie betrübt, dass es ebenfalls ein Sohn ist?«
»Wie kannst du das nur denken? Sie freut sich ehrlich für die Königin. Du kennst sie doch, ihr gutes Herz trägt immer den Sieg davon.«
»Ja, wenn das nur bei manch anderem auch so wäre«, antwortete Jacquemine vielsagend.
* * *
Zwei Tage nach Philippes Aufbruch brachte ein Bote erste Hiobsbotschaften in das
Hôtel d’Artois.
Jeanne und Séverine lauschten gemeinsam seinem knappen Bericht. Entsetzen erfasste sie.
»Königin Clementia liegt in hohem Fieber. Sie ist kaum bei Bewusstsein. Der kleine Prinz – man hat ihn Jean Posthumus getauft, weil er nach dem Tod seines Vaters zur Welt gekommen ist – ist krank und schwach. Er wurde in aller Eile getauft.«
Philippe habe den Prinzen, gemeinsam mit Mahaut, über das Taufbecken gehalten, erfuhren sie des Weiteren. Das prächtige Fest, für das der Adel und die Prälaten ihre Staatsgewänder schon bereitgelegt hatten, sei auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Solange man um das Leben von Mutter und Sohn fürchten musste, gab es keinen Grund zu feiern.
»Wir müssen für Clementia und ihren Sohn beten«, erklärte Jeanne, nachdem der Bote gegangen war. »Komm mit in die Kapelle, Séverine.«
Der ganze Haushalt schloss sich ihrer Fürbitte an. Ihre Töchter knieten neben Jacquemine. Die hellen Stimmen rührten Jeanne zu Tränen. Ihre Mädchen waren gesund, ihr Sohn wuchs und gedieh, ihr Gemahl lebte. Mit ganzer Leidenschaft betete sie auch dafür, dass es in Zukunft so bleiben würde.
»Ich musste an Marguerite denken«, gestand sie Séverine später unter vier Augen. »Ich fand es damals schrecklich, dass ihr angesichts der Hinrichtung des Großmeisters der Templer nur der Wert des eigenen Lebens einfiel, aber ich bin nicht besser als sie. Clementias Leid bringt mir mein eigenes Glück doppelt zu Bewusstsein. Muss ich dafür Buße tun?«
»Es geht Clementia nicht besser, wenn du dir ein schlechtes Gewissen einredest.« Séverine rief sie energisch zur Ordnung. »Die Nachrichten sind ernst, aber du siehst an dir selbst und an Blanche, dass man auch nach einer schweren Niederkunft wieder genesen kann, und dass auch schwache Kinder überleben können.«
»Nur du findest immer die richtigen Worte, um mein Gemüt zu erhellen.« Jeanne umarmte ihre Schwester.
* * *
Drei Tage später traf Adrien in Mahauts Residenz ein. Einmal mehr durfte Séverine ihn, in aller Öffentlichkeit, nicht so willkommen heißen, wie es ihr das Herz eingab. Umarmungen und Küsse mussten warten.
Sie hatten sich so lange nicht gesehen. Seit Anfang Oktober die Kunde nach Paris gekommen war, dass der neue Papst Philippes Wunschkandidat war, sich nun Johannes XXII . nannte und weiterhin in Avignon residieren würde, war er ununterbrochen für den Regenten unterwegs gewesen. Erst das Wiedersehen brachte ihr zu Bewusstsein, wie viel Kraft es sie gekostet hatte, die Sehnsucht nach ihm vor allen anderen zu verbergen.
Da Mahaut noch mit Philippe in Vincennes war, zog Séverine Adrien kurz entschlossen in das Kabinett, in dem die Mutter ihre Besucher empfing. Erst hier begrüßte sie ihn gewohnt stürmisch.
»Wie schön, dass du dich nicht verändert hast«, lächelte er. Séverine entdeckte mit scharfem Blick die Sorgen hinter seinem Lächeln.
»Du bringst schlechte Nachrichten?«
»Wichtige und folgenschwere. Wir beide dienen jetzt dem König
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