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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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sich nahm und die kaum beschmutzten Finger zum Säubern in die Schale mit dem Rosenwasser tauchte, das für sie bereitstand.
    Séverine ließ ihren Blick über die Tafel schweifen. Adrien war nicht unter den Gästen. Die Männer trugen modische Gewänder, sie waren jung, sahen gut aus und überboten sich gegenseitig an Übermut und Gelächter. Die Frauen unterhielten sich leise. Musikanten spielten auf einer Galerie am anderen Ende des Saales.
    Séverine war beeindruckt und verunsichert zugleich. Das enge Gewand schnürte ihr fast die Luft ab. Warum nur musste sie sich in dieser fremden Welt bewegen?
    »Warum esst Ihr nicht? Ist das Essen nicht nach Eurem Geschmack?«
    Obwohl die Frage höchst liebenswürdig gestellt war, glaubte Séverine einen versteckten Spott herauszuhören. Am liebsten hätte sie die Tafel verlassen, ohne zu essen.
    Das geht nicht. Du hast Adrien dein Wort gegeben. Du musst das durchstehen.
    Sie wandte langsam den Kopf und bedachte ihre Nachbarin mit einem ruhigen Blick und einem Lächeln. Mit einem Mal wurde das enge Gewand zur Rüstung. Wenn sie nicht fliehen durfte, dann würde sie eben kämpfen.
    »Ich bin sicher, dass an Madames Tafel jedes Gericht köstlich ist«, antwortete sie süßlich, nahm das Messer auf, das sie erst jetzt entdeckte, säbelte trotzig ein Stück Fleisch ab, führte es zum Mund und kaute bedächtig. Es schmeckte scharf und würzig und trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Der Koch hatte es, im Gegensatz zu Elvire, nicht mit Rosmarin, sondern mit teurem Pfeffer gewürzt.
    Alles war anders in der Stadt des Königs. Ob alles besser war, würde sich noch zeigen müssen. Sie blickte zum Kopf der Tafel und begegnete Jeannes wohlwollendem Blick. Er gab ihr Sicherheit, obwohl sie bisher nur wenige Worte miteinander gewechselt hatten.

[home]
Drittes Kapitel
    D ie Türflügel schwangen zurück, als hätte ein Windstoß sie getroffen. Erschrocken ließen Jeannes Damen die Nadelarbeiten sinken. Eine junge Frau rauschte mit kleinem Gefolge in den Saal. Sie warf einen flüchtigen Blick über die hastig knicksende Gesellschaft und blieb ausgerechnet vor Séverine stehen.
    »Ein neues Gesicht? Wieso hat man mir nichts davon erzählt? Wer seid Ihr?«
    Séverine verspürte ein Gefühl von Unbehagen. Die Fremde war ihr auf den ersten Blick unsympathisch. Sie strahlte Kälte aus. Der Pelzbesatz des Umhanges, die Goldkordeln des Verschlusses und die Juwelen an Händen und Gewand flirrten und blendeten und demonstrierten Reichtum und Macht. Eine Wolke von Rosenduft begleitete jede ihrer Bewegungen.
    Sie wartete sichtlich ungeduldig auf Séverines Antwort. Das gereizte Tappen ihrer Fußspitze unter den Rocksäumen drang durch die plötzliche Stille.
    »Mein Name ist Séverine Gasnay, Madame«, ließ Séverine sie nicht länger warten.
    »Sie ist neu im Gefolge Eurer Schwester«, sprang Jacquemine, die Séverine tatsächlich inzwischen in ihr mütterliches Herz geschlossen hatte, helfend ein. »Es fehlt ihr noch ein wenig an höfischem Schliff, aber sie ist eine gelehrige Schülerin.«
    »Dann sag ihr, dass es sich nicht gehört, die Schwiegertochter des Königs anzugaffen wie einen Tanzbären auf dem Vorplatz von Notre-Dame.«
    Blanche, Jeannes jüngere Schwester, die mit dem Grafen von Marche verheiratet war, war gerade achtzehn Jahre alt. Das wusste Séverine von Jacquemine. Ihre atemlose, aufgeregte Art zu sprechen klang künstlich und aufgesetzt. Séverine verharrte sicherheitshalber in der verspäteten Reverenz.
    »Verzeiht ihre Unbeholfenheit«, fügte Jacquemine eine weitere Entschuldigung hinzu.
    »An irgendjemanden erinnert sie mich«, wandte Blanche sich jetzt an ihre Schwester Jeanne in einem Ton, in dem man von irgendetwas spricht, nicht aber über einen Menschen. Séverines erster Eindruck von ihr fand Bestätigung.
    »Schwester! Wie schön, dass du mich besuchst.« Jeanne lenkte Blanche geschickt ab. »Setz dich, der Wind scheint dir zugesetzt zu haben. Bist du etwa nicht im Tragstuhl gekommen?«
    Augenblicklich besorgt um ihr Aussehen, prüfte Blanche den Sitz der Perlennadeln in ihren blonden, hochgesteckten Haaren. Jeannes und Séverines Blicke trafen sich. Sie bedeutete ihr stumm, sich zurückzuhalten.
    Nicht zum ersten Mal vermied Jeanne es sorgsam, Auskunft über Séverines Familie und ihre Herkunft zu geben. Sie durfte Jeanne auch nie in den Königspalast auf der
Île de la Cité
begleiten. Séverine blieb das nicht verborgen, aber es störte sie auch nicht. Das

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