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Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
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haben, doch das gewisse Etwas an ihr machte es schwer, sie nicht auf Anhieb ins Herz zu schließen. Die Gräfin suchte Adriens Blick.
    »Ich will Euren Wunsch und den des Mädchens erfüllen, Seigneur von Flavy. Ihr werdet das Geheimnis um ihre Person lüften, wenn Ihr es für angebracht haltet. Bis dahin soll Séverine als mein Schützling und Gast zu meinem Haushalt gehören. Ehe wir es allerdings bekanntgeben, müssen wir aber wohl etwas für ihre Erscheinung tun.«
    Jeanne erhob sich und winkte der rundlichen Ehrendame zu. Die verstaute ihr Stickzeug in einem Korb, ehe sie nähertrat und auf die Anweisung ihrer Herrin wartete.
    »Wir haben eine Menge Arbeit vor uns, meine liebe Jacquemine. Ich möchte Séverine bei der Abendtafel dem Haushalt vorstellen. Sorgt dafür, dass sie gebadet wird und passende Kleidung erhält. Bedient Euch bei meinen Hauskleidern, ich denke, dort wird sich etwas Passendes für sie finden. Wir sind praktisch gleich groß, und die Weite kann mit den Bändern reguliert werden. Die Zeit ist knapp, aber ich setze mein Vertrauen in Euch. Da wir heute ganz unter uns sind und keine Gäste erwarten, ist die Gelegenheit günstig.«
    Ehe Séverine die Konsequenz dieser Befehle begriff, spürte sie schon Jacquemines Hand zwischen ihren Schulterblättern.
    »Verabschiedet Euch«, sagte sie knapp. »Wir müssen uns sputen.«
    »Ich …«
    »Geh nur.« Jeanne nickte ihr zu. »Jacquemine war schon meine Kinderfrau. Heute befiehlt sie über meine Kinderkammer und hütet meine drei Lämmchen wie ihren Augapfel. Sie weiß, was sie tut. Sie hat ein Herz für Vögel, die aus dem Nest gefallen sind.«
    »Ich möchte mich trotzdem von Adrien verabschieden.« Séverine ging erhobenen Hauptes auf ihn zu. Alles ging viel zu schnell für sie.
    Adrien strich ihr sacht über den Kopf. Erste Zweifel stiegen in ihm hoch. Hatte er wirklich das Richtige getan? Würde sie hier glücklich sein, oder opferte er eine Unschuldige dem eigenen Sinn für Gerechtigkeit?
    In einem Aufruhr von Gefühlen hätte er sie am liebsten an die Hand genommen und wieder nach Faucheville gebracht. Aber dafür war es nun zu spät. Sie hatte ein Anrecht darauf, ein Leben zu führen, das ihrem Rang und ihrer Geburt entsprach. Er machte den Abschied kurz. Was er dachte, durfte er nicht aussprechen, und was er sagte, war mehr an Jeanne als an Séverine gerichtet.
    »Wir müssen uns für heute trennen. Ich werde dich nicht aus den Augen verlieren. Wenn du mich brauchst, lass mich rufen. Gott schütze dich.«
    Adriens letzte Worte beunruhigten Séverine, aber man ließ weder ihm noch ihr Zeit für weitere Beteuerungen.
    Es wird nicht lange dauern, bis du ihn wiedersiehst,
sprach sie sich im Stillen Mut zu.
Adrien hält sein Wort, du musst nur geduldig sein.
    Geduldig musste sie schon gleich mit Jacquemine sein, die ein wenig schwer hörte. Aber sie wusste sich Gehorsam zu verschaffen. Weder die Bademägde, die Séverine von Kopf bis Fuß abschrubbten und ihr die Haare wuschen, noch die beiden Kammermädchen, die sie ihr vor dem Feuer trocken kämmten und sie neu einkleideten, wagten es, angeleitet und angetrieben von Jacquemine, neugierige Fragen zu stellen.
    Séverine schloss die Augen, nur so konnte sie die Betulichkeit fremder Menschen an sich ertragen. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte sie abgewiesen.
    »Was sind das nur für Haare?«
    Erst der erstaunte Ausruf der Magd brachte sie dazu, vorsichtig zu blinzeln. Was war falsch mit ihrem Haar? Es sah immer so aus, nachdem es gewaschen war. Gesträhnt in allen Farbtönen von Gold, Bronze und hellem Braun, glich es dem Laub eines Herbstwaldes. Wenn es streng geflochten wurde, fiel es nicht auf.
    »Sie sollte es offen tragen«, schlug die Magd jetzt vor, aber Jacquemine wollte nichts davon hören.
    »Es geht nicht darum, ihre Reize herauszustellen, es geht um ihre Ehrbarkeit. Das Haar wird aufgesteckt und kommt unter einen Schleier.«
    Niemand fragte Séverine um ihre Meinung. Mit steifem Nacken, die Hände im Schoß, ließ sie alles mit sich geschehen. Es kam ihr vor, als würde sie zu einem Bündel verschnürt. Sogar das feine Leinenhemd, das anfangs wie ein Streicheln über ihren Körper geglitten war, klebte nun straff, von den Bändern des Untergewandes festgehalten, auf ihrer Haut.
    Dass ihr unbehaglich war unter all dem Stoff, nahm keine der Frauen zur Kenntnis. Sie vermisste den lockeren Kittel schon, ehe ihr das Surkot, wie die Mägde das Übergewand nannten, über den Kopf gestülpt

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