Turm der Lügen
wurde und in reichen Falten bis auf den Boden fiel.
Prüfend strich sie über den Stoff. Wolle. So fein gewebt, dass es ihr kaum möglich war, die Schuss- und Kettfäden zu unterscheiden. Nicht einmal die Tochter des Burgvogts von Faucheville trug ein solches Gewand. Die Farbe, ein tiefes Waldgrün, gefiel ihr besonders. Sie erinnerte sie an Mooskissen unter Farnen.
»Das wird für den Anfang genügen.« Jacquemine umrundete Séverine und verengte dabei die Augen. »Euer Aussehen wirft Fragen auf, Demoiselle Séverine. Ich überlasse es Madame Jeanne, die Antwort darauf zu geben. Je weniger Ihr sprecht, desto besser wird es sein. Wo hat der Seigneur von Flavy Euch nur gefunden?«
»Die Antwort darauf sollte auch Madame Jeanne geben, wenn sie es für angebracht hält«, entgegnete Séverine, ohne nachzudenken.
Erst als alle Hände ruhten und Jacquemine ein tadelndes »tststs« von sich gab, wurde ihr klar, dass sie sich anscheinend im Ton vergriffen hatte. Dennoch verweigerte ihre Zunge die Entschuldigung. Die Prozedur des Bades und des Ankleidens hatte sie reizbar und ungeduldig werden lassen. Es widerstrebte ihr, willfährig alles mit sich geschehen zu lassen, auch wenn man ihr Gutes tat. Jede Art willenloser Fügsamkeit war ihr fremd.
Ein fernes Hornsignal rettete sie vor weiterer Peinlichkeit. Fragend sah sie zu Jacquemine, die mit wenigen Handgriffen den Sitz ihres Kopfputzes prüfte und die Falten ihres Gewandes ausschüttelte, bevor sie zur Tür schritt.
»Kommt!«
Durch einen Wink wurde Séverine aufgefordert, ihr zu folgen. Die ersten Schritte tat sie zögernd. Die Fülle der Stoffe hinderte ihre Beine am Ausschreiten …, und die seltsamen Pantoffeln aus besticktem Ziegenleder drohten ihr von den Füßen zu rutschen. Ihr Ungeschick wurde bemerkt. Ein leises Kichern in ihrem Rücken trieb ihr zornige Röte auf die Wangen. Die dummen Gänse warteten offensichtlich darauf, dass sie strauchelte.
Séverine hatte in der Küche von Faucheville gelernt, nichts auf solche Mädchen zu geben. Sie warf den Kopf in den Nacken und hielt sich gerade, ehe sie ihr Kleid ein wenig raffte. Dann zwang sie sich, so langsam zu gehen, als prüfe sie das schlüpfrige, winterliche Eis im Burggraben auf seine Tragfähigkeit. Da sie über Anmut und Körperbeherrschung verfügte, waren die Mägde erstaunt, wie schnell sie eine gewisse Gewandtheit erlangte.
Als sie in Jacquemines Begleitung die große Halle betrat, wandten sich ihr alle Köpfe zu. Das unbekannte Mädchen, dem weder Scheu noch Ängstlichkeit anzumerken war, versetzte sie in Erstaunen und ließ sie fragend tuscheln, wer sie wohl sein könne.
Die Gräfin winkte Séverine in ihre Nähe und dankte ihrer Ehrendame für ihre Mühen.
»Setz dich bitte«, forderte sie Séverine auf. Als alle verstummt waren, erhob sie die Stimme. »Heißt Demoiselle Séverine Gasnay in unserem Kreis willkommen. Sie ist mir ein lieber Gast und wird für einige Zeit in unserem Hause leben.«
Die wenigen Worte stellten klar, dass man Séverine mit Respekt begegnen sollte. Dass sie zwar kein Familienmitglied war, aber auch keine Magd. Der Umstand, dass erst nach ihrem Erscheinen aufgetragen wurde, unterstrich ihre Stellung.
Die hufeisenförmige Tafel, die sich unter der Fülle der aufgetragenen Gerichte bog, war mit feinstem Tuch bedeckt. In Glaspokalen und polierten Zinntellern spiegelte sich das Licht der Kerzen. Saftige Bratenscheiben wurden auf dicke weiße Brotscheiben gelegt, und in den Schüsseln dampften so viele Beilagen, dass Séverine nicht alle benennen konnte. Sie beobachtete, wie geschickt die Damen ihre zierlichen Essmesser gebrauchten oder sich von den Herren an ihrer Seite mundgerechte Stücke vorlegen ließen.
In Faucheville hatte es nur an hohen Feiertagen solche Köstlichkeiten gegeben. Sie hatte, wie alle anderen, das meiste mit den Fingern gegessen. Ansonsten wurden die Speisen in Holznäpfen serviert und mit Holzlöffeln gegessen. Trinkbecher aus Ton und Holz waren alles, was sie kannte. Nie hatte sie Hunger gelitten, aber der Anblick dieser Tafel machte ihr klar, wie bescheiden sie gelebt hatte.
Verlockende Düfte stiegen ihr in die Nase und verstärkten das Gefühl der Leere in ihrem Magen. Séverine zögerte, den ersten Bissen zum Mund zu führen. Ihr Ungeschick würde sie entlarven als Mädchen vom Land, das nur eine Laune des Schicksals in dieses prächtige Haus geführt hatte. Ihre Nachbarin spitzte indessen geziert die Lippen, ehe sie kleine Bissen zu
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