Turm der Lügen
ungeheuerliche Forderung verschlug Philippe den Atem. Charles schluchzte und murmelte Unverständliches. Nur Isabelle besaß die Geistesgegenwart, dem Bruder gelassen zu antworten.
»Marguerite, Jeanne und Blanche sind, wie auch wir, Nachkommen von König Louis, den der Papst in den Stand eines Heiligen erhoben hat. Es geht nicht an, eine Frau, in deren Adern das Blut dieses Mannes fließt, wie eine Straßendirne zu behandeln. Wie auch immer das Urteil über meine Schwägerinnen ausfällt, es muss ihrer Herkunft und ihrem Stand angemessen sein, damit nicht noch mehr Schande auf unsere Familie fällt.«
Louis’ unsteter Blick traf die Schwester, ehe er sich auf den Vater konzentrierte.
»Für mich ist Marguerite schon jetzt gestorben«, knurrte er. »Sie hat meine Ehre beschmutzt. Sie ist es nicht wert, noch dieselbe Luft wie wir zu atmen.«
»Philippe!« Der König wandte sich an ihn, ohne Louis’ Ausbruch zu kommentieren. »Hast du noch etwas hinzuzufügen?«
Philippe wusste mit Sicherheit, dass sein Vater den Skandal in Grenzen halten wollte, auch wenn er Härte zeigen musste, um das Königshaus nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Er sah nur einen Weg, Jeanne zu retten. Es galt, einen Kompromiss auszuhandeln.
»Jeanne von Burgund ist mir seit dem ersten Tag unserer Ehe eine loyale, liebenswerte und treue Gemahlin. Unseren Kindern schenkt sie Mutterliebe, und meinem Haushalt ist sie eine Zierde. Wenn sie gefehlt hat, dann nur, weil sie ihre Schwester liebt und ihr keine Schlechtigkeit zutraut. Habt Nachsicht mit ihrer weiblichen Schwäche. Seht ihr Fehlen auch als meinen Fehler an.«
Philippes Verteidigung seiner Frau veranlasste Louis zu einem Fluch. Charles wandte dem Bruder ein von Tränen überströmtes Gesicht zu. Er überließ sich hemmungslos seinen widersprüchlichen Gefühlen.
»Warum hat Jeanne nicht mit mir gesprochen, wenn du keine Zeit für sie hattest«, fragte er Philippe vorwurfsvoll. »Ich hätte einen Weg gefunden, Blanche zur Vernunft zu bringen. Was ist schon ein Aunay gegen den Sohn des Königs von Frankreich.«
Die Annahme, dass sich die sittsame, unaufdringliche Jeanne einem Jüngling und Nichtsnutz wie Charles anvertrauen würde, war so absurd, dass Philippe ihm keine Antwort gab. Stattdessen wandte er sich noch einmal nachdrücklich an den Vater.
»Ich möchte auf das Protokoll hinweisen dürfen, Sire, das die peinliche Befragung dokumentiert. Es enthält die Namen von Dienern, von Mägden, von Helfershelfern, die Bescheid wussten, die Orte der heimlichen Treffen und die hässlichen Einzelheiten befremdlicher Liebesspiele. Jeannes Name taucht in all diesem Schmutz nicht ein einziges Mal auf. Dabei hätten weder Gautier noch Philippe von Aunay einen Grund gehabt, sie zu schonen. Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Sie ist unschuldig.«
»Bist du dir da wirklich sicher, Bruder? Immerhin ist Gautier dein Schildknappe.«
Der gehässige Einwurf kam von Louis. Er war in seinem Element. Schon lange war es ihm nicht mehr gelungen, den beherrschten Philippe zu provozieren.
»Du weißt, welchen Torturen die Brüder unterworfen wurden«, gab Philippe bitter zurück. »Qualen dieser Art verhindern vernunftgesteuertes Denken. Kein Mensch kann unter solchen Umständen noch lügen. Im Gegenteil, viele der armen Teufel gestehen unter der Folter Dinge, die sie nie getan haben.«
»Willst du etwa behaupten, die Schurken wären gänzlich unschuldig? Sie hätten sich nie unzüchtig mit diesen Dirnen herumgewälzt. Sich nicht genommen, was den Ehemännern gehört? Du bist ja noch verrückter als Charles, der seine Zierpuppe nicht hergeben will.«
»Schluss!« Der Befehl des Königs schnitt Louis scharf das Wort ab. Er musste nicht einmal die Stimme heben, um Autorität auszuüben. »Ich dulde nicht, dass meine Söhne sich streiten wie Knechte auf dem Heumarkt.«
Philippe wischte sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn. Hinter seinen Schläfen pochte zunehmender Schmerz. Schon brannte das Licht der Kerzen unerträglich grell in seinen Augen. Sein Körper verspannte sich, um einem Anfall zu begegnen. Jeanne. Was hätte er darum gegeben, sie in Sicherheit zu wissen.
Er musste kämpfen.
»Welches Urteil hältst du für angemessen, Isabelle?«, vernahm er die Stimme des Königs durch einen Nebelschleier der Qual.
»Sie haben die Würde der Krone und die Ehre der Familie aus Leichtsinn und Lebensgier mit Füßen getreten«, antwortete Isabelle so hell und klar, dass
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