Turm der Lügen
tatsächlich Leben? Mein einziger Vertrauter ist ein Pferd. Weißt du, dass ich dabei war, als Mars zur Welt kam? Ich habe ihn trocken gerieben und ihn gestützt, weil er zu schwach war, allein bei seiner Mutter zu trinken. Wir sind all die Jahre Freunde geblieben. Du hingegen gehst mir absichtlich aus dem Weg. Warum?«
Wie sollte er in Worte fassen, was ihn bewegte? Wie das Chaos aus Gefühlen, Pflichten und Wünschen ordnen, das seinen Alltag so kompliziert machte?
»Ich bin dir lästig, nicht wahr?«
»Nein! Niemals!« Die traurige Feststellung riss ihn aus seinem Selbstmitleid. »Du bist mir teuer. Verzeih. Ich war unwirsch und gedankenlos. Ich habe nur an mich und meine Probleme gedacht.«
»Dein Vater?«, fragte Séverine.
»Wie kommst du darauf?«
»Das Gesinde tratscht, dass er dich zu einer Ehe drängt. Wirst du ihm gehorchen?«
Nur, wenn du meine Braut wärst!
Adrien unterdrückte die Worte im letzten Moment. Sein Vater würde einen Wutanfall bekommen, wenn er ahnen würde, dass er Séverine nach Paris gebracht hatte. Nur weil er Faucheville und seine Belange seit Jahren seinem Sohn überließ, war es Adrien bisher gelungen, dies zu verheimlichen. Er hinterging seinen Vater nicht gern, aber in diesem Falle stand Séverines Schicksal auf dem Spiel. Ehe er nicht die Einwilligung des Königs zu einer Heirat mit ihr bekam, durfte niemand von ihrer Existenz im
Hôtel d’Alençon
wissen. Sie musste in diesem Haus bleiben, weil nur bei Philippe gewährleistet war, dass sie sich in Sicherheit befand.
Séverine glaubte zu wissen, weshalb er schwieg. »Fürchtest du, dass ich die Wahrheit nicht ertrage? Ich halte mehr aus, als ich dachte. Das weiß ich inzwischen. Was ich nicht ertrage, sind Lügen und falsche Versprechungen.«
»Ich habe dich nie belogen.«
»Aber du schweigst, weil du denkst, du könntest mir die Wahrheit nicht zumuten. Ist das auf seine Art nicht ebenso eine Lüge?«
Adrien lockerte den Griff, aber er gab sie nicht frei.
»Man kann nicht immer alles sagen. Wenn man jemanden damit in Gefahr bringt, muss man schweigen dürfen«, sagte er angestrengt. »Mir liegt allein an deinem Wohlergehen. Solange du es wünschst, werde ich an deiner Seite sein.«
Séverine lachte freudlos. »Meine Wünsche haben noch nie gezählt. Mir ist klar, dass es in deinem Leben keinen Platz für mich geben kann. Unsere Wege werden sich trennen. Du hast Verpflichtungen. Philippe, dein Vater, der König, alle beanspruchen dich.«
Da sie im Dunkel des Pferdestalles sein Mienenspiel nicht sehen konnte, lauschte sie auf seine Atemzüge. Rasch und unregelmäßig hörten sie sich an. Wütend? Weil sie die Dinge beim Namen nannte?
»Du täuschst dich. Das alles ist wohl wahr, doch du bist meinem Herzen am nächsten«, sagte er nach einer schier unendlichen Pause eindringlich. »Du. Niemand wird dich verdrängen können.«
»Hast du vergessen, wer ich bin? Ein Nichts. Eine verstoßene Tochter. Du weißt nicht, was du sagst«, erwiderte sie traurig.
»Ganz im Gegenteil. Nie zuvor war ich mir meiner Gefühle so sicher. Mein Leben und meine Liebe gehören allein dir. Für immer!«
Die Gedanken überschlugen sich in Séverines Kopf. Sie musste träumen. Bestimmt träumte sie.
»Erinnere dich an Maubuisson, ehe die Katastrophe über uns hereinbrach«, beschwor Adrien sie, weil sie nichts sagte. »Du musst gespürt haben, was uns verbindet. Dass wir wie zwei Hälften eines Ganzen zusammengehören. Ich will dich lieben und vor allem Bösen bewahren, solange ein Funken Leben in mir glimmt. Mit Philippe habe ich bereits darüber gesprochen. Nach Jeannes Begnadigung und Rehabilitierung wird er alles daransetzen, dem König die Einwilligung zu unserer Heirat abzuringen.«
»Ob ich mich morgen an diesen Traum erinnern werde?«, flüsterte sie tonlos.
»Séverine! Es ist kein Traum. Ich begehre dich, ich liebe dich. Ich will mit dir leben, für dich da sein. Ich möchte Kinder mit dir haben. Sag mir: Erwiderst du meine Liebe, und willst du meine Frau werden?«
Séverine war überwältigt. Tränen schossen ihr in die Augen. Adriens Frau zu sein war alles, was sie sich wünschte. Mit dem ganzen Ungestüm ihres Temperaments warf sie sich an seine Brust und presste ihre Lippen auf die seinen. Ihr stürmischer und zugleich unschuldiger Mund schmeckte nach Honig und Gewürzen.
Was sich an Sehnsucht, Leidenschaft und Gefühlen seit jenem Abend auf den Wällen in ihnen aufgestaut hatte, brach sich mit Macht Bahn.
Ohne jede
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