Turm-Fraeulein
zu wollen, indem er kurz in die Tiefe führte, um dann doch wieder anzusteigen. Offensichtlich hatten die Vols in Gradlinigkeit keine besondere Tugend gesehen! Dies war wahrscheinlich ihr landschaftlich schönster Gang, obwohl es nichts als Felsgestein zu sehen gab.
Dann tauchte eine Öffnung auf, in die sich ein Mondstrahl verirrt hatte. Snorty wich zurück; zwar wirkte Mondlicht auf ihn nicht tödlich, doch mißtraute er ihm aus Prinzip. Chester blieb stehen, um hinauszublicken – und stieß einen Pfiff aus. Grundy stieg ab und schritt hinüber, um selbst nachzusehen, wozu er dem Zentaur auf die Schultern kletterte.
Nun konnte er es erblicken: Oben hockte der fahle Mond auf einer störrischen Wolke. Darunter öffnete sich die ehrfurchtgebietende Kluft der Spalte. Grundy schwindelte plötzlich, als würde er in diese entsetzliche Schlucht hineinstürzen. Doch Chesters Hand packte ihn, bevor er fallen konnte. »Bevor man sich aus diesem Fenster lehnt, muß man mit allen vier Füßen fest auf dem Boden stehen«, murmelte der Zentaur.
Wie wahr! Hastig kletterte Grundy zurück und entfernte sich von dem Loch; er hatte mehr als genug davon!
Sie setzten ihre Reise fort. Zwar schienen sie recht schnell voranzukommen, doch tatsächlich waren sie langsamer, als hätten sie sich auf ebenem Boden bewegt, denn hier mußten sie ständig über Steine stampfen und Spinnweben aus dem Weg räumen.
Gegen Mitternacht hörten sie etwas und blieben stehen. Ein leises Pfeifen oder Stöhnen hallte von irgendwo aus dem Tunnel. »Da ist etwas!« rief Grundy entsetzt.
»Ich bin sicher, daß das schon in Ordnung geht«, bemerkte Bink geradezu beiläufig. Grundy warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Wie kannst du denn nur immer so sicher sein, daß alles in Ordnung geht?«
Doch Bink lächelte nur geheimnisvoll und zuckte die Schultern. Offensichtlich wußte er irgend etwas, was Grundy nicht wußte, und das ärgerte den kleinen Golem enorm.
Sie warteten, denn viel mehr konnten sie ohnehin nicht tun. Der Lärm kam immer näher; schon bald erblickten sie eine dunkle Gestalt im Tunnel. Grundy wich ein Stück zurück, und Chester zog sein Schwert, doch Bink verhielt sich völlig ruhig und unbesorgt. Es schien ein Tier zu sein, kleiner als der Zentaur, aber recht massiv. Seine Vorderpfoten besaßen gewaltige Klauen. Es bewegte sich voran, und es war offensichtlich, daß in dem schmalen Tunnel nicht genug Platz war, um an ihnen vorbeizuziehen. Und doch hielt es nicht inne, es kam vielmehr immer näher.
»Laß den Vol einfach vorbei«, sagte Bink, »er ist harmlos.«
»Ein Vol?« fragte Grundy.
»Das Gespenst von einem«, erklärte Bink.
Bei diesen Worten bewegte sich die Gestalt durch Chester hindurch, dann durch Bink, und streifte Grundy, ohne daß er es spürte. In der Tat – ein Gespenst!
Es schlüpfte hinter ihnen weiter den Gang entlang, seinen merkwürdigen Geschäften nachgehend, ohne die Lebenden auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Ich kann mir vorstellen, daß die zivilisierten Vols sich vor einer solchen Erscheinung ebenso erschreckt haben, wie wir es vor menschlichen Gespenstern tun«, bemerkte Bink.
Chester steckte sein Schwert wieder in die Scheide. Seine Hand zitterte. »Kann ich mir auch vorstellen«, meinte er und entspannte sich langsam wieder.
Grundy konnte Chesters Verlegenheit vollkommen nachempfinden. Er hatte kurz vor der Panik gestanden, und doch hatte offensichtlich gar keine Gefahr gedroht. Natürlich besaßen die Vols auch Gespenster, das tat jede Art von Lebewesen. Aber einen Augenblick lang hatte es tatsächlich wie ein Ungeheuer ausgesehen!
Sie machten sich wieder auf den Weg. Kurz vor Einbruch der Dämmerung erreichten sie den Boden der Spalte. Dort stellten sie das Bett einfach in die beruhigende Dunkelheit des Tunnels und gingen hinaus, um nach Nahrung zu suchen. »Aber wenn du den Drachen hörst«, ermahnte Chester Grundy, »dann komm sofort zu uns, denn du bist der einzige, der mit ihm sprechen kann.«
Grundy lächelte. Das stimmte allerdings; ohne ihn könnte es zu äußerst heiklen Mißverständnissen kommen! Schon fühlte er sich ein wenig wichtiger.
Der Boden der Spalte war ein einigermaßen angenehmer Ort, zumindest hier in der Gegend. Es gab kleine Bäume und Büsche und Obst im Überfluß. Das einzige, was fehlte, war tierisches Leben. Und das lag daran, daß die Spaltendrachin alles auffraß.
Lange Zeit hatten die Leute geglaubt, daß der Spaltendrache eine schreckliche, nutzlose
Weitere Kostenlose Bücher