Turm-Fraeulein
sicher, doch Grundy hielt noch immer einen ihrer Finger fest. Dann hob sie ihn herunter und brachte ihn hinüber zum Sofa, wo sie sich erneut verwandelte. Nun saßen sie beide recht bequem auf dem Sofa.
»Es geht um die Frau, die du ›Süße Mutter‹ nennst«, sagte er. »Sie… ist vielleicht nicht ganz das, was du glaubst.«
»Aber ich kenne sie doch schon mein ganzes Leben!« rief Rapunzel.
»Wie bist du hierher in den Elfenbeinturm gekommen?« fragte er und hoffte, auf diesem Wege den Sachverhalt erklären zu können, ohne sie allzu sehr zu erschrecken.
»Nun, ich kann mich selbst zwar nicht mehr daran erinnern, aber nach allem, was man mir erzählt hat, waren meine Eltern in Schwierigkeiten, und die Süße Mutter wollte ihnen helfen. Also gaben sie mich zu ihr in Pflege. Ich habe eigentlich auch keinen Grund zur Klage, denn die Süße Mutter war immer sehr lieb zu mir, aber manchmal…«
Es würde also nicht leicht sein, ihr die Sache beizubringen. »Draußen ist sie als Seevettel bekannt«, sagte er. »Sie nimmt junge Frauen und… und verwendet ihre Körper.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Rapunzel und legte die Stirn in Falten.
»Sie… übernimmt ihre Körper und macht sie zu ihrem. Ich weiß nicht, was mit den… ursprünglichen Besitzerinnen geschieht. Dann ist sie also keine alte Vettel mehr, sondern plötzlich jung und schön. Und dann sorgt sie für einen neuen Körper, für die Zeit, wenn sie wieder alt geworden ist und ihn braucht. Auf diese Weise ist sie unsterblich – nur eben nicht in ihrem eigenen Körper.«
Rapunzel versteifte sich. »Das kann ich nicht glauben.«
»Das habe ich befürchtet«, sagte Grundy. »Aber wenn du es nicht glaubst, droht dir ein Schicksal, das noch sehr viel schlimmer ist als der Tod.«
»Aber die Süße Mutter hat mich doch immer so gut behandelt…«
»Und hat dich nie aus dem Elfenbeinturm gelassen.«
»Das habe ich schon erklärt. Das Licht… das Ungeheuer…«
»Und ich habe dir erklärt, daß das Ungeheuer niemals hierher kommt, nur dieses eine Mal, um dabei zu helfen, dich zu retten. Es kennt die Seevettel von früher.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du wirkst mir doch wie eine recht nette Person! Wie kannst du da so etwas Gemeines über die Süße Mutter sagen?«
Sie weigerte sich, ihm zu glauben. Das konnte er ihr kaum verdenken und doch mußte er sie irgendwie überzeugen. »Nun, soweit ich weiß, kann sie keinen fremden Körper übernehmen, es sei denn, daß sie das Einverständnis dazu erhält. Solange du also dein Einverständnis nicht gibst, bist du vielleicht in Sicherheit, auch wenn du nicht daran glaubst. Du möchtest doch nicht etwa, daß dein Körper von einer anderen Person übernommen wird, oder?«
Rapunzel erschauerte auf eine bezaubernde Art und Weise. »Nein, natürlich nicht! Aber ich kann einfach nicht glauben, daß die Vettelmutter… ich meine die Süße Mutter jemals so etwas tun könnte! Sie hat sich so gut um mich gekümmert!«
»Weil die Seesüße… ich meine die Seevettel natürlich den besten Körper verwenden will! Sie hat dich genauso vorbereitet, wie sie es haben will, indem sie dir nur anvertraut, was du wissen sollst, ohne daß du jemals die Wahrheit erfahren könntest. Weiß sie, daß du mit Ivy korrespondierst?«
»Natürlich. Erst hatte ich Angst, daß sie böse werden könnte, doch als sie erfuhr, daß Ivy nur ein Kind ist, schien sie es für richtig zu halten. Kinder wissen ja nicht sehr viel. Aber andere Brieffreundinnen darf ich nicht haben.«
»Weil sie nicht will, daß du irgend etwas über die wirkliche Welt erfährst! Nicht bevor es zu spät ist!«
Rapunzel schüttelte den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben…«
Da ertönte draußen eine Stimme. »Rapunzel, Rapunzel, laß dein langes Haar herunter!«
»Oh, sie ist wieder da!« rief das Mädchen und fuhr sich erschrocken mit der Hand über den Mund. »Sie darf dich hier nicht finden!«
Dem konnte sich Grundy nur anschließen. Doch er saß in der Falle: Solange die Vettel unten wartete, konnten er und Snorty nicht fliehen. Was sollte er jetzt tun?
8
Die Seevettel
»Rapunzel!« rief die Vettel nun schon etwas ungeduldiger.
»Ich muß sie hereinlassen!« sagte das Mädchen, sprang vom Sofa und nahm wieder menschliche Gestalt an.
»Das darfst du nicht!« sagte Grundy. »Sie und ich sind natürliche Feinde!«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll!« klagte Rapunzel mit banger Stimme.
»Was immer du tun magst, laß sie jedenfalls nicht
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