Turm-Fraeulein
wich erst im letzten Moment zur Seite, damit die Hexe nicht merkte, wie unbeholfen ihr Angriff in Wirklichkeit gewesen war.
Das hatte einen unerwarteten Effekt. Es täuschte nämlich Rapunzel auch, und als der Besen aufprallte, schrie sie entsetzt: »Oh, du wirst ihn noch zerquetschen!«
Grundy wollte die Gunst der Stunde nutzen. Er krabbelte zu der Damsell hinüber, kletterte an ihrem Kleid hinauf und stellte sich auf ihre wunderschöne Schulter. »Laß sie mich nicht zerquetschen!« flehte er sie an.
Außer sich vor Wut hob die Hexe den Besen wie eine Keule und stürzte vor – doch dann entdeckte sie, wohin Grundy sich geflüchtet hatte. Mit erhobenem Besen hielt sie inne.
»Was tust du da nur, Süße Mutter?« rief Rapunzel, fast in Tränen aufgelöst. »So habe ich dich ja noch nie gesehen!«
Die Vettel senkte den Besen und riß sich zusammen. Sie wollte der Damsell nicht ihr wahres Gesicht zeigen. Denn wenn Rapunzel jemals Verdacht hegen sollte, daß die Hexe in Wirklichkeit böse war, ließe sie es nicht zu, daß diese ihren Körper benutzte. Plötzlich begriff Grundy, daß dies die wahre Auseinandersetzung war: die Frage nämlich, ob die Hexe oder der Golem die Wahrheit sagte. Wenn er diesen Wettstreit gewinnen konnte, würde er die Damsell retten können; wenn nicht, dann war alles verloren.
Die Vettel zwang sich zu einem Lächeln auf ihrem bösartigen Gesicht. »Ich versuche doch lediglich, das Zimmer von diesem Nager zu befreien«, erklärte sie.
»Frag sie doch mal, warum sie dich hier gefangenhält«, schlug Grundy vor.
»Aber du bist doch gar keine Gefangene, meine Liebe!« wandte die Vettel ein, noch bevor Rapunzel etwas sagen konnte. »Das hier ist dein Zuhause.«
»Frag sie, warum du niemals hinausgehen darfst«, soufflierte Grundy als nächstes.
»Aber irgend jemand muß doch die Leuchtturmlampe beaufsichtigen«, sagte die Hexe. »Sie funktioniert zwar allein, aber manchmal geht es auch schief, und dann muß man sich um sie kümmern. Das weißt du doch alles, meine Liebe. Nun laß mich eben mal dieses Ungeziefer beseitigen…« Sie streckte ihre Hand vor.
»Und warum sie sich nicht mal um die Lampe kümmert, während du nach draußen gehst«, fügte Grundy hastig hinzu.
»Aber du kennst die Außenwelt doch gar nicht«, meinte die Vettel.
»Doch, das tue ich, Süße Mutter«, erwiderte Rapunzel. »Du hast mir doch alles über Xanth beigebracht, nicht wahr?«
Dies ließ die Vettel innehalten. Natürlich hatte sie der Damsell nur beigebracht, was sie für ungefährlich und nützlich hielt. Selbstverständlich hatte sie sehr vieles ausgelassen, doch wäre es nun peinlich gewesen, das zuzugeben.
»Hat sie dir auch davon erzählt, weshalb das Seeungeheuer niemals das Leuchtturmsignal in Anspruch nimmt?« fragte Grundy die Damsell.
»Das tut es aber doch!« protestierte die Vettel so unschuldig, wie sie sich nur verstellen konnte.
»Nur merkwürdig, daß mir das Ungeheuer das genaue Gegenteil erzählt hat«, bemerkte Grundy.
»Rapunzel, willst du diesem kleinen Lügner etwa Glauben schenken?« wollte die Vettel wissen.
Nun zögerte Rapunzel. Sie wußte wirklich nicht, wem sie glauben sollte. »Ich…«
Grundy mußte einsehen, daß die Angelegenheit mit einem offenen Gespräch nicht zu klären sein würde. Er mußte die Vettel direkter in Zugzwang bringen – und das würde sehr riskant sein. »Vielleicht irre ich mich ja auch«, sagte er zu der Vettel. »Läßt du mich in Frieden, wenn ich aufhöre, dich zu beleidigen?«
Es war förmlich mitanzusehen, wie die bösesten Berechnungen der Vettel durch den Kopf gingen. Sie wußte nicht, wieviel er der Damsell vor ihrer Rückkehr verraten hatte, und auch nicht, wieviel die Damsell davon glauben mochte. Ganz gewiß wollte sie nicht, daß er blieb, um die Damsell durch weitere Wahrheiten aufzuklären. Sie würde versuchen, ihn bei der nächstbesten Gelegenheit auszuschalten. »Aber natürlich, du kleines… Wesen«, sagte sie mit gespielter Ehrlichkeit.
So weit, so gut. »Dann begebe ich mich mal ins Bett und ruhe mich ein wenig aus«, sagte Grundy. Er kletterte an Rapunzel herab, die etwas erschreckt reagierte, und huschte über den Boden zum Bett. Dann krabbelte er an einem Bein empor. »Bleib auf der Hut«, murmelte er Snorty dabei zu.
Oben angekommen, machte er es sich bequem. »Wie wär's mit etwas zu essen, alte Giftnudel?« fragte er höflich.
Die Vettel versteifte sich. Wie erwartet, hatte sie Rapunzel nichts von Ausdrücken wie
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