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Turm-Fraeulein

Titel: Turm-Fraeulein Kostenlos Bücher Online Lesen
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dem er je begegnet war, sie behandelte ihn außerdem wie eine richtige Person. »Es ist so schön in Gesellschaft zu sein – weißt du, ich habe noch nie Besuch gehabt. Und dazu sogar noch ein Ungeheuer Unterm Bett, selbst wenn es nur ein geborgtes ist! Es ist schon manchmal recht einsam, die ganze Zeit so allein zu sein, wenn die Süße Mutter nicht da ist. Natürlich schreibe ich Ivy hin und wieder und tausche mit ihr Dinge aus, auch wenn ich ihr nichts Besonderes schicken kann, vergleicht man es mit den wunderbaren Dingen, die sie mir schickt…«
    »Die wunderbaren…?«
    Sie sprang auf und wirkte durch ihre anmutigen Bewegungen noch hübscher. »Schau mal, ich habe sie hier oben auf einem Tisch. Moment, ich muß mich eben verwandeln, um daranzukommen.« Sie nahm menschliche Gestalt an, griff mit der Hand nach unten, nahm Grundy auf und stellte ihn sanft auf den Tisch. Ihre Finger waren sanft und dufteten leicht nach Schaumbad. »Und jetzt halt mal meine Hand«, sagte sie und streckte einen Finger aus.
    Grundy nahm den Finger – sogar der Nagel war glatt und von schöner Form –, und plötzlich war sie wieder klein, stand neben ihm und hielt ihn an der Hand. »Das kann ich nicht von allein«, rief sie. »Ich muß nämlich dort stehen, wo ich mich verwandle, wenn du verstehst, was ich meine. Ich kann zwar nach unten, indem ich springe und mich mitten im Flug verwandle, aber es ist sehr schwierig, nach oben zu kommen, ohne dabei den Tisch zu zerbrechen.« Sie lächelte strahlend. »Aber wenn eine andere Person da ist, dann kann ich mich zu ihr gesellen – und so bin ich nun hier, hier mit dir auf dem Tisch.«
    Das war sie in der Tat, und Grundy war mächtig beeindruckt. Vor ihnen lag eine gewaltige Sammlung merkwürdiger Dinge: mehrere Bindfäden, Kiesel, Sand, Blumenblätter, Tonscherben, eine Papierklammer, ein mundanischer Pfennig, eine Scherbe aus gefärbtem Glas und so weiter. Das waren die ganz gewöhnlichen Dinge, die Ivy im Austausch für die wunderschönen Wortspiele geschickt hatte, die sie von Rapunzel bekam. Und doch schien das Mädchen sehr zufrieden damit zu sein.
    »Ich habe nicht den Eindruck, daß das, was du ihr schickst, weniger wert wäre als dies hier«, sagte er vorsichtig.
    »Aber diese Dinge stammen doch aus der wirklichen Welt!« rief sie glücklich. »Alles, was ich ihr schenken kann, sind gebrauchte Wortspiel-Utensilien, und die sind sehr billig. Schau mal, da drüben liegen einige in der Ecke.« Sie wies in einen Winkel des Raumes, und Grundy erblickte einen Haufen Krimskrams, unter anderem einen Ast, einen merkwürdig gewundenen Arm und einen Ball, der aus Fingern und Händen bestand.
    »Was ist denn das alles?« fragte er.
    »Oh, dieser Ast ist ein Immergrün – er läßt alles, was er berührt, grün werden, du siehst es dort unten am Boden, wie grün der schon ist. Und das da ist ein Handball und das dort ein Armleuchter…«
    »Verstehe«, sagte Grundy, als er den leuchtenden Arm erblickte.
    »Dinge aus Wortspielen haben kaum einen Bezug zur wirklichen Welt«, fuhr Rapunzel fort. »Aber diese Sachen, die Ivy mir schenkt – jedes davon ein kleines Stück ihrer Wirklichkeit – ach, wie ich doch wünschte, daß ich dort einmal hin könnte! Ich möchte so gerne an der wirklichen Welt teilhaben.«
    »Ich würde dich gerne dorthin bringen«, sagte Grundy, der kaum glauben konnte, daß die Sache so leicht gehen sollte.
    »Oh, ich kann aber nicht«, sagte sie und furchte dabei die Stirn; es erschien Grundy, als würde die Lampe plötzlich von einer Wolke bedeckt. »Ich muß nämlich auf die Lampe aufpassen.«
    »Auf die Lampe«, wiederholte er und musterte sie, während sich der Nebel um diese wieder auflöste.
    »Das hier ist schließlich ein Leuchtturm. Der Strahl muß immer hin und her kreisen, damit das Seeungeheuer nicht im Dunkeln gegen den Fels prallt.«
    »Aber das Seeungeheuer kommt doch gar nicht hierher!« rief Grundy. »Es fürchtet sich vor der Seevettel.«
    »Vor wem?«
    »Der Seevettel. Sie…«
    »Was ist das für ein Wort, ›Vettel‹?«
    Zog sie ihn etwa auf? »Das ist es, was ich dir erzählen muß und was dir vielleicht gar nicht gefallen wird. Vielleicht solltest du dich lieber erst einmal hinsetzen.«
    »Also gut«, willigte sie sofort ein. »Halt meine Hand.«
    Also hielt er ihre Hand, was ihm keine große Mühe war, und gemeinsam schritten sie zur Tischkante. Dann sprang sie ab – und nahm mitten im Fall wieder Menschengestalt an. Sie landete fest und

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