Turner 01 - Dunkle Schuld
einfach umgebracht und sich dann, natürlich, aus dem Staub gemacht.«
»Wusste Carl davon?«
»Das meiste. Man konnte nie mit Sicherheit sagen, wie viel Carl wirklich verstand. Manchmal hat man dagesessen
und sich mit ihm unterhalten und konnte quasi zusehen, dass er das, was man ihm sagte … na, verbog. Man sah, wie es in ihm zu etwas anderem wurde.«
»Dann fingen die Probleme also schon früh an.«
»Zunächst schien bei ihm alles in Ordnung zu sein, sagte Dad. Und eine Zeit lang tat man es mit einem Achselzucken ab. Die Hügel-Leute besitzen eine große Toleranz, was Eigentümlichkeiten angeht. Später sagten ihm die Ärzte, es könnte davon kommen, dass er Gott weiß wie lange dort oben in der Hütte ohne Wasser und Nahrung gelegen hätte.«
»Ein Gehirnschaden.«
Sie nickte. »Schon möglich. Aber er hatte auch keine Geburtsvorsorge erhalten - und keine Nachsorge, was das angeht. Anscheinend wurde er genau dort in dieser Hütte geboren. Gut möglich, dass er Geburtsschäden erlitten hat, Sauerstoffmangel, ein zu starker Druck auf den Kopf, der eine Blutung ausgelöst hat. Oder er hat sich eine Infektion geholt, entweder zu diesem Zeitpunkt oder später, hat sich bei seiner Mutter angesteckt, oder sie wurde von Insekten übertragen. Einfach Vererbung? Die Mutter sah selbst nie wirklich gesund aus, sagten die Leute, oder als hätte sie alle beieinander. Trotz alledem hat meine Familie Carl auf dieselbe Weise großgezogen wie mich. Sie haben es zumindest versucht. Nichts davon war einfach für sie.«
»Oder für Sie, vermute ich.«
»Ich fand es gut, einen Bruder zu haben. Und es ist nicht so, dass er jemals gewalttätig war oder so. Er war nur nicht immer da. Ich musste in der Schule ein paar Kämpfe seinetwegen ausfechten. Aber ziemlich bald haben sie uns in Ruhe gelassen.«
»Hat er die Schule abgeschlossen?«
»Ja, und auf Nelsons Ranch einen Job bekommen. Wir waren damals schon umgezogen, in die nächstgelegene Stadt. Die nannten es Ranch, aber letzten Endes züchteten sie nur Hühner.«
»Da braucht man nur ein kleines Lasso.«
Sie sah mich verdutzt an und fing dann an zu lachen.
»Mit Carl war es seit einem Jahr schlimmer geworden. Wenn sein Verstand auf Wanderschaft ging, zog er los, um ihn zu suchen, sagte Dad. Nach etwa einem Monat wurde er gefeuert. Mr. Nelson kam persönlich rüber, um mit Dad zu reden und ihm zu sagen, wie schlecht sie sich alle dabei fühlten. Danach hing er, glaube ich, nur noch zu Hause rum. Ich war weg, um aufs College zu gehen. Am Anfang schrieb ich ihm, aber er antwortete nie, und bald verloren wir die Verbindung. Wir hatten einander auch nicht viel zu sagen, die wenigen Male, die ich nach Hause kam.«
»Sie fuhren nicht regelmäßig nach Hause?«
»Ich finanzierte mich selbst. Ich hatte ein halbes Stipendium, aber das reichte nicht. Jedes Wochenende, die meisten Semesterferien, Feiertage und fast immer nach den Seminaren habe ich gearbeitet.«
»Gute Noten?«
»Gut genug, dass ich meinen Abschluss in dreieinhalb Jahren geschafft habe. Ich wollte danach noch Jura studieren, konnte es mir aber unmöglich leisten. Die Kasse war leer.«
»Sie sind noch jung. Sie könnten zurückgehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist eine Frage des Selbstvertrauens. Des Selbstvertrauens und des Elans. Damals wäre
mir nie in den Sinn gekommen, dass irgendetwas mich bremsen könnte. Heute kenne ich zu viele Dinge, die mich davon abhalten können.«
Aus Gründen, die nur ihm selbst bekannt waren (Eine Abfuhr von einem Mädel erhalten? Schlechte Schulnoten? Keine Aufnahme in die Football-Mannschaft?), lehnte sich ein Teenager aus einem vorbeifahrenden Auto und brüllte: »Ich bin soooo enttäuscht!«
Sarah Hazelwood lächelte. »So. Da hören Sie’s. Was gibt’s noch mehr dazu zu sagen? Für jeden von uns.«
Kapitel Sechzehn
Zuschlagende Türen und zufallende Schlösser: Diese Geräusche vergisst man nie wieder, und auch nicht das, was man dabei empfindet. Das war etwas, das in meiner eigenen Zukunft auf mich gewartet hatte, etwas, an das ich mich gewöhnte, sofern man sich überhaupt an so etwas gewöhnen kann. Selbst wenn ich heute zurückblicke, stehen mir noch die Haare zu Berge, bleibt mir die Luft weg.
Als der elektrische Türöffner summte, drückte ich die Doppeltür ins Wunderland auf. Es folgte ein weiterer Flur, ein weiterer Geburtskanal. Zwei Stockwerke hoch, in einem Fahrstuhl voller Menschen, dann noch einen Flur runter, ein Wirrwarr von Wagen - Wäsche,
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