Turner 01 - Dunkle Schuld
überlastetem Gehirn wurde sie in diesem kritischen Moment, in diesen letzten Augenblicken seines Lebens irgendwie zu
Doreen. Wie er dort lag und aufsah, war es nicht ich, den er sah, sondern Doreen. Er hob die Hand, so als wolle er sie streicheln. Dann fiel die Hand herab.
Die richtige Doreen sah ich fünf Tage später auf der Beerdigung, und sie sah nicht viel besser aus, als ich mich fühlte. Sie trug ein blaues Kleid. Armbänder klapperten, wenn sie ihren Arm hob, um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Wir sagten einander, wie leid es uns täte und wie sehr wir ihn vermissten. Wir sagten, wir würden in Kontakt bleiben.
Für sie war das ein Versprechen. Zweimal pro Woche erhielt ich im Gefängnis schwatzhafte Briefe von ihr. Sie waren mit lila Tinte geschrieben auf postkartengroßes Lavendelpapier, einmal gefaltet, und erzählten Neuigkeiten über neue Nachbarn, Neugeborene, neue Geschäfte und Einkaufszentren. Sie schrieb fast ein Jahr lang beharrlich, heroisch, bevor sie aufgab.
Kapitel Einunddreißig
Das Büro war leer, aber nicht abgeschlossen. Während ich mich an all die hohlen, widerhallenden Gebäude und Stra ßen aus dem Film Das letzte Ufer erinnerte, den ich in dem leicht zu beeindruckenden Alter von vierzehn Jahren gesehen hatte (und in dessen Anschluss ich alles von Nevil Shute las, was unsere Bücherei zu bieten hatte), suchte und fand ich Lonnie und Don Lee im Diner’s.
»Mittagessen gegangen, was? Vielleicht sollten Sie das Schild gleich hier anbringen. Büro des Sheriffs. Sie könnten es neben die Tageskarte hängen.«
»Für Sie ist wohl eher noch Frühstückszeit, wie’s aussieht«, konterte Don Lee. »Gerade erst aufgestanden?«
»Jepp. Das Nachtleben hier macht mich völlig fertig.«
»Man gewöhnt sich an das Tempo.«
Thelma materialisierte neben der Sitzecke. »Was darf’s sein?«
Ich bat um Kaffee.
»Ihr Leute könntet mein Leben erheblich vereinfachen, wenn ihr alle zur selben Zeit kämet.« Sie zuckte mit den Achseln. »Aber was kümmert’s euch.« Sie knallte eine Rechnung neben mir auf den Tisch. »Und warum, zum Teufel, solltet ihr überhaupt? Wollt ihr anderen auch noch was? Oder wartet ihr noch ein bisschen, damit ich dreimal gehen muss statt einmal?«
»Wir sind glücklich und zufrieden«, sagte Lonnie.
»Im Moment, ja.«
Thelma ging und schüttelte den Kopf.
»Sind Sie im Dienst? Wo ist June?«
»Sind wir«, sagte Don Lee.
»Und June ist unterwegs nach Tupelo, soweit wir wissen.« Lonnie warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, die Stimme war, wie die Augen, auf einen Punkt über meiner Schulter gerichtet. »Anscheinend ist er dorthin, nachdem er hier die Biege gemacht hat.«
»Scheiße.«
»Da sind wir so ziemlich derselben Ansicht«, meinte Don Lee.
Thelma stellte eine Tasse Kaffee neben den Bon, den sie kurz vorher dorthin geknallt hatte. Als ich mich bei ihr bedankte, war es, als hätte ich sie mit einer Nadel gepiekt.
»Ich weiß, ich muss sie in Ruhe lassen, weil sie da ganz allein durch muss«, sagte Lonnie. »Wir haben darüber geredet. Ich würde alles nur noch schlimmer machen.«
Genau.
»Haben Sie die Nachricht erhalten?«
Nein, hatte ich nicht.
»Val Bjorn. Sagte, Sie sollten sie anrufen.«
»Die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchung müssten jetzt vorliegen.«
»Nein, darum geht’s wahrscheinlich nicht. Die haben wir gestern am späten Abend erhalten.«
»Und?«
»Bringt uns nicht sehr viel weiter.«
»Im Büro liegt eine Kopie für Sie.«
Ich trank meinen Kaffee, rief Val an, nur um von ihrem
Assistenten oder ihrer Assistentin Jamie (Männlich? Weiblich? Unmöglich zu sagen) zu erfahren, dass sie bei Gericht sei. Um sechs Uhr abends rief sie zurück.
»Hungrig?«, fragte sie.
»Schon möglich.«
»Meinen Sie, Sie finden den Weg zu meinem Haus?«
»Ich schnappe mir Pfeil und Bogen und sattele den Esel.«
»Gott sei Dank ist heute kein Abschlussball, denn dann wären alle vergeben.«
»Die meiste Zeit habe ich im Internet gesurft«, erzählte ich ihr wenig später an den Küchentisch gelehnt und ein Glas Weißwein in der Hand, der so trocken war, dass ich ebenso gut in eine Khakifrucht hätte beißen können. Sie hatte mich gefragt, womit ich meinen Nachmittag verbracht hatte. »Man glaubt es kaum, wie viele Seiten sich ausschließlich mit Filmen befassen. Horrorfilme, Film noir, Science-Fiction. Irgendwer hat einen Film über Müllmänner gemacht, die in Wahrheit Außerirdische sind und sich von dem
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