Turner 02 - Dunkle Vergeltung
Notizblock. Fand eine leere Seite, kritzelte Adressen und Telefonnummern darauf, riss das Blatt ab und gab es mir.
»Das als erste Orientierungshilfe.«
»Die wussten Sie alle auswendig?«
»Manche Leute können mit ihren Gelenken Tricks machen, zum Beispiel die Daumen bis zum Unterarm zurückbiegen. Ich kann Tricks mit dem Gedächtnis. Ich höre was, sehe was und hab’s für immer abgespeichert.«
»Wie wär’s mit noch einem Bier, bevor die Flaschen zu klein werden? Alkohol tötet Gehirnzellen ab, wissen Sie - könnte Ihnen dabei helfen, sich diese Gedächtnisnummer abzugewöhnen.«
»Wäre einen Versuch wert.«
Ich winkte den Kellner her, bestellte Tracy ein weiteres Bier und mir einen Bourbon. Er brachte uns die Getränke und fing an, die Teller abzuräumen.
»Wo wir gerade bei Geschichten sind«, meinte Tracy. »Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich vor Jahren mal gelesen habe. Damals stand ich auf Science-Fiction.
Ich hatte gerade erst die Lust am Lesen entdeckt. Jedes Buch, das ich aufschlug, war das reinste Wunder für mich. Die Geschichte jedenfalls war von einem dieser älteren Schriftsteller - Kuttner, Kornbluth oder so. Die Leute darin lebten praktisch ewig. Aber alle hundert Jahre oder so mussten sie in so ein Zentrum zurückkehren, wo sie dann in den Pool sprangen und einmal quer durchschwammen. Um sich zu verjüngen. Das Symbol der Wiedergeburt. Was ich interessant fand, war, dass das Wasser dieses Wunderpools ihnen die Erinnerungen nahm, es radierte ihr Gedächtnis aus, und dann machten sie weiter wie bisher.«
Ich trank einen maßvollen Schluck von meinem Bourbon. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen soviel Zurückhaltung nicht angesagt war. Diese ganze Sache von wegen Maßhalten schleicht sich fast unbemerkt an einen heran. Es geht damit los, das wir die Haare im Ausguss der Badewanne zählen, und ehe wir uns versehen, erzählen wir den Leuten, wir dürften nur anderthalb Tassen Kaffee pro Tag trinken. Wir lesen auf den Lebensmittelpackungen die Hinweise auf gesättigte Fettsäuren und versuchen unsere Verluste wie ein geschickter Buchhalter aufzuteilen auf Geschichte und nachlassendes Gedächtnis.
»Ich weiß nicht genau, was ich darauf erwidern soll«, sagte ich zu Tracy.
»Ja. Ich auch nicht. Genau das meine ich. Vierhundert Menschen sterben beim Einsturz eines minderwertig gebauten Wohnhauses in Pakistan. Ein Vierzehnjähriger
marschiert mit einem Sturmgewehr in seine Highschool und tötet drei Lehrer, den Rektor und zwölf Mitschüler. Die eine Hälfte der Bewohner eines Landes, von dem man noch nie etwas gehört hat, hat’s auf die andere Hälfte abgesehen, ermordet sie, schlachtet sie ab und verscharrt sie in Massengräbern. Gibt es eine angemessene Erwiderung auf so etwas? Man erreicht den Punkt, an dem man sich wünscht, man könnte in so einem Pool schwimmen gehen, alles einfach wegwischen. Aber das geht nicht.«
Schweigend tranken wir aus und machten Feierabend. Genug von den ewigen Problemen der Welt und unseren eigenen.
»Sie kommen morgen früh rein?«, fragte Tracy.
»Als Allererstes.«
»Wo schlafen Sie?«
Da ich auf eigene Kosten hier war, hatte ich das billigste Zimmer genommen, das ich finden konnte, im Nu-Way Motel am äußersten Stadtrand. Jeder Raum war in einem anderen Pastellton gestrichen, für die Farbe an meinen Wänden fiel mir nichts Besseres ein als Saure-Drops-Rosa. Wenn drinnen ein Stapel Illustrierte aus den Fünfzigern gelegen hätte, wäre ich nicht überrascht gewesen.
Als ich Tracy Caulding zu ihrem blauen Honda Civic begleitete, nannte ich ihr mein Motel, das Zimmer und die Telefonnummer. »Ich schätze, ich muss Ihnen das nicht aufschreiben«, sagte ich und bekam wieder kurz dieses Lächeln zu sehen, das bereits Sams Büro auf dem
Revier aufgehellt hatte. Aus alter Gewohnheit warf ich einen Blick in den Wagen. Auf dem Rücksitz türmten sich Lehrbücher.
»Was ist das? Eine Polizistin mit geheimen Ambitionen?«
Sie hob die Hände, die Handflächen nach außen, in gespielter Kapitulation. »Sie haben mich auf frischer Tat ertappt.«
»Sieht schwer nach Aufbaustudium aus.«
»Ich gestehe. Magister in Sozialarbeit, sechs Scheine fehlen mir noch.«
Sie lehnte sich gegen die Hecktür, spielte an der silbernen Ohrklammer.
»Bulle war so ziemlich das Letzte, an das ich gedacht hab. Seit ich elf, zwölf Jahre alt war, wollte ich immer Lehrerin werden. Die Nase ewig in einem Buch und so. Aber ich bin in einer Wohnwagensiedlung
Weitere Kostenlose Bücher