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Twig im Dunkelwald

Twig im Dunkelwald

Titel: Twig im Dunkelwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Stewart
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Hause zu bringen. Ich darf sie nicht aus den Augen verlieren!
    Dann sah er sie wieder. Sie stand in einiger Entfernung vor ihm und kehrte ihm den Rücken zu. Die Musik war wieder leise und einschmeichelnd, die Stimmen sangen ein beruhigendes Schlaflied. Twig rannte auf die Gestalt zu, ganz kribblig vor Aufregung. Er rief ihren Namen, doch Spelda rührte sich nicht.
    »Mutter«, rief Twig. »Ich bin’s.«
    Spelda nickte und drehte sich langsam um. Twig zitterte am ganzen Körper. Warum benahm sie sich so merkwürdig? Die Musik spielte ganz leise. Mit gesenktem Kopf stand Spelda vor Twig, die Kapuze des Pelzmantels hing ihr ins Gesicht. Langsam breitete sie die Arme aus um ihn zu umarmen. Twig trat auf sie zu.
    Im selben Augenblick schrie sie gellend auf, stolperte zurück und schlug in Panik mit den Händen nach ihrem Kopf. Die Musik schwoll wieder an und wurde drängender wie ein aufgeregt hämmerndes Herz. Wieder schrie Spelda schrill auf – der Schrei ging Twig durch Mark und Bein – und fuchtelte mit den Fäusten in der Luft herum.
    »Mutter!«, brüllte Twig. »Was ist denn?«
    Aus einer klaffenden Wunde an ihrem Kopf quoll Blut. Ein weiterer Schnitt öffnete sich auf ihrer Schulter, dann noch einer auf ihrem Rücken. Dort, wo das Blut hervorschoss, verfärbte sich der blaue Mantel violett. Immer noch wand Spelda sich und schrie und schlug wie wild nach dem unsichtbaren Angreifer.
    Twig starrte sie entsetzt an. Er wäre ihr gern zu Hilfe geeilt, aber er konnte nichts, absolut nichts tun. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so nutzlos gefühlt. Plötzlich sah er, wie Spelda sich an den Hals fasste. Blut strömte zwischen ihren Fingern heraus. Sie wimmerte leise, brach zusammen und krümmte sich zuckend auf dem Boden.
    Dann bewegte sie sich nicht mehr.
    »NEIIIIIN!«, heulte Twig. Er fiel vor ihr auf die Knie und schüttelte sie an den Schultern, doch der Körper gab kein Lebenszeichen mehr von sich. »Sie ist tot«, schluchzte er, »und es ist meine Schuld. Warum? Warum denn bloß?«
    Er drückte den leblosen Körper seiner Mutter fest an sich und heiße Tränen rannen ihm über das Gesicht und tropften auf den blutbefleckten Mantel.
    »So ist es gut«, sagte eine Stimme über seinem Kopf. »Lass alles raus. Wasch die Lügen ab.«
    Twig sah auf. »Wer ist da?«, fragte er und wischte sich die Augen trocken. Er sah nichts, niemanden. Die Tränen begannen wieder zu laufen.
    »Ich bin’s«, sagte die Stimme. »Hier.«
    Twig starrte in die Richtung, aus der die Stimme kam, konnte aber immer noch niemanden sehen. Er sprang auf die Füße. »Komm doch aus deinem Versteck!«, schrie er und zog das Messer aus dem Gürtel. »Stelle dich!« Er stach wie wild in die Luft. »KOMM RAUS!«, brüllte er. »ZEIG DICH, DU FEIGLING!«
    Aber es hatte keinen Zweck. Der unsichtbare Angreifer blieb unsichtbar. Die Rache musste warten. Tränen des Kummers, der Verzweiflung und des Zorns strömten Twig über die Wangen. Er konnte gar nicht aufhören zu weinen. Und dann geschah etwas Seltsames. Zuerst hielt Twig es für Einbildung, aber nein, alles um ihn herum begann sich ganz allmählich zu verändern. Der Nebel wurde dünner, das türkise Licht schwächer, die Musik verstummte. Twig merkte, dass er immer noch im Wald war. Er sah sich um und da entdeckte er, wer mit ihm gesprochen hatte.
    »Du!«, rief er erschrocken. Er kannte das Tier aus den Geschichten, die Taghair ihm erzählt hatte. Es war ein Raupenvogel oder vielmehr der Raupenvogel, denn die Vögel machten keinen Unterschied zwischen sich und ihren Artgenossen. Der Kummer kam wieder hoch in ihm. »Warum hast du das getan?«, schluchzte er. »Warum hast du Spelda umgebracht? Meine Mutter!«
    Der große Raupenvogel legte den Kopf schräg und ein Sonnenstrahl fiel auf den gewaltigen Schnabel aus Horn. Der Vogel beäugte den Jungen mit einem großen, dunkelroten Auge.

    »Das war nicht deine Mutter, Twig«, sagte er.
    »Aber ich habe sie doch gesehen«, rief Twig. »Ich habe ihre Stimme gehört. Sie hat selbst gesagt, dass sie meine Mutter ist. Warum sollte sie …«
    »Sieh sie dir doch an«, sagte der Vogel.
    »Ich …«
    »Sieh dir ihre Finger an, ihre Zehen«, beharrte der Vogel. »Streich die Haare zurück und sieh dir das Gesicht an. Dann sag mir, ob das deine Mutter ist.«
    Twig kehrte zu der Leiche zurück und hockte sich neben sie. Sie wirkte verändert. Der Mantel sah mehr wie ein Fell als wie ein Mantel aus. Twig sah an dem ausgestreckten Arm entlang und begriff

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