Twig im Dunkelwald
Schauer. Ihm war eingefallen, was der Raupenvogel gesagt hatte: Taghair schläft in unseren Kokons und träumt unsere Träume. »Vielleicht«, flüsterte Twig aufgeregt, »träume ich auch ihre Träume.«
Entschlossen hangelte er sich weiter hinunter, bis sein Gesicht sich auf gleicher Höhe mit dem Kokon befand und seine Nase auf den elastischen Flaum drückte. Der würzig-süße Duft wurde immer stärker. Er ließ sich noch ein Stück weiter hinab. Weich streifte das seidige Material seine Wange. Schließlich stand er mit den Füßen auf dem wulstigen Rand der Öffnung, dort, wo der schlüpfende Raupenvogel das Gespinst des Kokons auseinander gerollt hatte.
»Auf die Plätze, fertig … los!«
Er ließ die Schnur los und fiel in den Kokon. Der Kokon schwankte heftig und Twig schloss die Augen, ergriffen von panischer Angst, die Schnur könnte reißen. Das Schwanken hörte auf. Er öffnete die Augen.
Im Kokon war es warm – warm, dunkel und friedlich. Twigs Puls beruhigte sich wieder. Tief sog er den aromatischen Duft ein, ihm war rundum behaglich zumute. Hier konnte ihm nichts passieren.
Er zog die Beine an, rollte sich zu einer Kugel zusammen und schob einen Arm angewinkelt unter den Kopf. Fast versank er in dem weichen Flausch. Ihm war, als sei er in warmes Duftöl eingetaucht. Twig fühlte sich gut aufgehoben und wurde schläfrig. Seine erschöpften Glieder wurden schwer, seine Lider fielen langsam zu.
»Ach Banderbär«, flüsterte er, schon beinahe schlafend. »Dem Himmel sei Dank, dass du mich von allen Bäumen ausgerechnet auf einem Wiegenliedbaum abgesetzt hast.«
Und dann, während der wunderbare Kokon sanft im Wind hin und her schaukelte, schlief er ein.
*
Um Mitternacht hatte der Wind die Wolken vertrieben und war schwächer geworden. Der Mond stand wieder tief am Himmel. In der Ferne segelte ein Himmelsschiff durch die Nacht. Es hatte sämtliche Segel gesetzt um die leichte Brise einzufangen.
Das Blätterdach des Dunkelwalds glitzerte im Mondschein wie Wasser. Plötzlich glitt ein Schatten darüber, der Schatten eines Tieres, das über die Baumwipfel strich.
Es hatte mächtige schwarze, ledrige Schwingen, die nach hinten in Bögen endeten und vorn mit tückischen Klauen besetzt waren. Die Luft selbst schien zu erzittern, während die Schwingen gewichtig und zielstrebig über den nachtblauen Himmel strebten. Das Wesen hatte einen kleinen, schuppigen Kopf und anstelle des Mundes einen langen, röhrenförmigen Rüssel. Es machte schlürfende und schnüffelnde Geräusche und pustete mit jedem Flügelschlag einen faulig riechenden Dunst in die Luft. Dieses seltsame Wesen war der Faulsauger.
Das Licht des sinkenden Mondes drang kaum noch durch die Blätter, doch schien das dem Faulsauger nichts auszumachen. Aus seinen vorstehenden, messinggelben Augen schossen zwei breite Lichtstrahlen, mit denen es in die dunklen Tiefen spähte. Unermüdlich flog das Tier seine Kreise und würde nicht eher von seiner Suche ablassen, bis es gefunden hatte, was es suchte.
Plötzlich erfassten seine Augen einen großen, runden, glänzenden Gegenstand, der am Ast eines hohen, türkisfarbenen Wiegenliedbaums baumelte. Der Faulsauger ließ ein durchdringendes Kreischen ertönen, klappte die Flügel zusammen und brach im Sturzflug durch die Blätter. Mit ausgestreckten Stummelbeinen landete er schwerfällig auf dem Ast. Dann legte er den Kopf schräg und lauschte.
Das Geräusch ruhiger Atemzüge wehte herauf. Der Faulsauger hob witternd den Kopf, am ganzen Körper zitternd vor Erregung. Er machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen und dann noch einen.
Vom Körperbau her zum Fliegen bestimmt, hatte er einen langsamen und schwerfälligen Gang. Erst wenn die eine Klaue einen festen Halt gefunden hatte, ließ er die andere los. So ging er um den dicken Ast herum, bis er mit dem Kopf nach unten hing, die Krallen in die grobe Rinde gegraben.
Sein Kopf befand sich nun auf gleicher Höhe mit der Öffnung des Kokons. Er schaute hinein und stocherte mit der verknöcherten Spitze seines langen Rüssels darin herum. Wieder begann er zu zittern, heftiger noch als zuvor, und aus seinem Inneren kam ein gurgelndes Geräusch. Sein Bauch zog sich zusammen und ein Strahl gallenartiger Flüssigkeit spritzte aus dem Rüssel. Dann zog der Faulsauger den Kopf wieder heraus.
Zischend traf die gelbgrüne Flüssigkeit auf die Innenhaut des Kokons. Dämpfe stiegen auf. Twig rümpfte die Nase, schlief aber weiter. Er träumte, dass
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