Typisch Mädchen
Als ich den Vorschlag machte, bekam ich zu hören: »Aber das wäre in der Zukunft ganz schön gefährlich für seine Identifikation als Mann, wenn er sich dann womöglich tatsächlich an den Mädchen orientierte.«
Klar, daß er deshalb an seiner männlichen Seele Schaden nehmen wird!
2. Juni 1983 (1 Jahr, 10 Monate)
In Italien ist es warm genug, so daß die Kinder nackt herumlaufen können. Schorschi macht es beim Pinkeln ganz selbstverständlich wie Anneli. Er hockt sich neben sie hin. Als Christa im Bad duscht, geht Anneli rein zu ihr und sagt, nachdem sie Christa eine Weile zugesehen hat: »Christa Mädchen.«
Ich hatte ihr noch nie erklärt, daß aus Mädchen Frauen werden oder daß Frauen auch Mädchen waren. Es wundert mich deshalb, wie früh bei einem Kind die Identität, die Verbindung von Frau und Mädchen schon festgestellt wird. Jetzt ist es natürlich in der Lage zu bemerken, was Frauen und Mädchen an Gemeinsamkeiten im Verhalten aufweisen und worin sie sich von der anderen Gruppe Menschen unterscheiden.
Wir gehen Sommerschuhe kaufen. Im Geschäft werden mir vier Paar Schuhe vorgelegt, die in die engere Auswahl kommen. Lackschuhe und schwarze Schuhe scheide ich aus. Von den verbleibenden beiden Paaren greife ich, ohne weiter zu überlegen, zu dem Paar, das mit Ziernähten versehen und modisch ist. Das andere Paar hat lediglich einen glatten, einfachen Lederstreifen um den Rist. Erst später fällt mir ein, daß ich das Paar wählte, das unzweideutig für Mädchen bestimmt war. Ich funktioniere wie eine Maschine und reagiere auf die herkömmliche Einteilung: Sie wird mir angeboten, und ich nehme sie an, wie vorgesehen. Für ein Mädchen muß natürlich der Schuh bestimmt sein, an dem sie sofort als Mädchen erkannt wird.
14.Juni 1983 (1 Jahr, 10 Monate)
Ein Gespräch unter Müttern auf der Bank, während die Kinder auf dem Spielplatz toben.
Die vierjährige Hanna turnt an den Geräten mit großer Begeisterung. Sie klettert und klettert, sie will immer höher hinauf. Irgendeine konkrete Gefahr bahnt sich nicht an. Das Kind bewegt sich sicher. Da stürzt ihre Mutter zu ihr, reißt sie vom Gerüst, schließt sie in ihre liebenden, beschützenden Arme und sagt: »Ach, mein Schatz, da kannst du ja runterfallen, das ist ja ganz gefährlich, wenn du so hoch rauf willst.« Geschrei von der Tochter. Aber die Mutter versteht es sehr geschickt, sie mit Sandspielen und der kleinen Anneli abzulenken. Der Friede ist wieder hergestellt. Das Mädchen hockt jetzt im Sand und spielt mit Anneli.
Das Gespräch kann fortgesetzt werden. Hannas Mutter erzählt nun von den Basteleien ihres fünfjährigen Sohnes: »Er bastelt ja so wahnsinnig gerne, und das ist dann manchmal schon gefährlich, wenn er so mit Handwerkszeug und Messer umgeht - aber das muß ein Bub eben lernen, daß er von selbst vorsichtig wird. Ich kann ihm die Sachen doch deshalb nicht aus der Hand nehmen oder das Basteln verbieten. Das ist eben ein bestimmtes Risiko - aber das gehört ja auch zu einem Buben dazu, sonst fühlen sich die ja nicht wohl.«
Aus irgendeinem Anlaß sagt Anneli: »Doktor schimpft« und erwähnt jetzt bei kleineren Verletzungen oder auch ohne Anlaß: »Gehen wir zum Doktor.« Mir fällt dabei auf, daß ihre Ärzteerlebnisse bisher nur mit männlichen Ärzten stattgefunden haben: Der Kinderarzt und der Zahnarzt in München und Berlin, alles Männer. »Arzt« war immer etwas Geheimnisvolles, weil wir warten mußten, weil er in einem besonderen Zimmer war, das wir nicht betreten durften, weil immer alles so schnell und sachlich ging - die andere Atmosphäre eben. Doktor ist für sie ein anziehend-geheimnisvolles Erlebnis - gekoppelt an die männliche Erscheinung und Autorität!
17. Juni 1983 (1 Jahr; 10 Monate)
Wir sind bei einer Bekannten und ihrem vierjährigen Sohn eingeladen. Der Bub fingert an der Balkontür herum, es gibt Krach und Konfusion, weil er sie nicht so schließen kann, wie er will. Da sagt seine Mutter vor beiden Kindern: »Buben sind ja wirklich schrecklich, sie stellen immer so viel unsinnige Dinge an. Aber da kann man nichts machen. Mädchen dagegen tun so etwas nicht, die sind von Haus aus vernünftiger und ruhiger!«
Natürlich probieren Mädchen ebenso an Türen herum und machen Unsinn - nur wird das nicht gleich dem Geschlecht zugeordnet, wie das bei Buben ist, sondern einfach untersagt
Zwei Stunden später versuchte sich nämlich Anneli an der Tür, wohl inspiriert vom Vorbild. Da ging die Gastgeberin
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