Typisch Mädchen
Sozialarbeiterin und Erzieherin, der Mutter dieses Buben. Für Anneli deckt sich der einschränkende Ausruf von Oma mit dem, was sie sieht. Die Welt stimmt, es paßt eins zum anderen. Warum nehme ich keine Autos für sie mit? Wegen meiner Abneigung, diesen Gebrauchsgegenstand zum ständigen Spielzeugfetisch der Kinder zu machen. Jedenfalls kann ich diese Erklärung bei meiner Tochter ohne Skrupel durchsetzen. Ich weiß nicht, ob ich bei einem Buben Zugeständnisse machen würde.
5. Juli 1983 (1Jahr, 11 Monate)
Im Engadin ist auch wieder der vierjährige Martin dabei mit Ellen, seiner Mutter. In letzter Zeit ist er zunehmend rauflustig geworden und sucht bei allen möglichen Gelegenheiten, kleinere Raufereien anzuzetteln. SeineMutterwehrtfürsich ab. Ich gehe darauf ein, und bei einer kleinen Rast beim Wandern gerät eraufdieseWeiseinmeinen »Schwitzkasten«, Kopfnach unten. Er ist hilflos und unterlegen. Wie bei seinem Vater. Da richtet seineMutterin vorwurfsvollem Tondas Wort anmich: »Warum bist du denn so aggressiv gegen den kleinenBuam ? Du brauchst ihn doch nicht gleich zum Verlierer zu machen.« Beim Vater ist es in Ordnung, wenn er der Stärkere ist und bei Raufspielen siegt. Nur bei einer Frau wird Gewalt als das, was sie ist, auch erkannt und ausgesprochen. Aber selbst dann darf eine Frau das wahre Kräfteverhältnis - und sei es nur im Spaß -nicht zeigen. Auch gegenüber dem kleinen Mann muß die Frau immer die Schwächere sein.
So hat Martin wieder etwas gelernt und Anneli sicher auch, denn sie stand mit großen Augen daneben.
10. Juli 1983 (1 Jahr, 11 Monate)
Im Urlaub sind Anneli und Klaus viel zusammen und freuen sich aneinander. Klaus stellt fest, daß für ihn die Art des Umgangs mit Annelisehrgefühlvollsei.Erkönnesichnichtvorstel-len, mit einem Sohn eine ähnliche Sprache zu pflegen, so einschmeichelnd, einfühlsamsanftundüberredend.Ermerke, wie knapp undpräzis ein GesprächmitSchorschi dagegen verlaufe. B ei Schorschi habe er auch viel mehr den Eindruck, daß er ihn in Frieden seinen Kram machen lasse, wogegen er Anneli zu sich heranzuziehen, eher zu seinen Ideen zu überreden geneigt sei.
Er ist sich sicher, einen Sohn nicht so körperlich-sinnlich anfassen zu wollen wie Anneli. Das würde er sich bei einem Buben peinlich vorstellen; mit einem Mann, und sei er auch noch so klein, könne er nicht einen so intensiven körperlichen Kontakt haben. Das Schmusen zum Beispiel habe für ihn einfach eine erotische Komponente, die er sich nur mit einem Mädchen vorstellen könne.
16. Juli 1983 (1 Jahr, 11 Monate)
Wieder einmal ist es auffällig, wie sehr sich Tonfall und Wortwahl, wenn Ellen mit Anneli spricht, vom Sprechen mit Martin unterscheidet. Sie benutzt bei Anneli sehr oft die Babysprache, dieTonlageihrerStimmeisthöher;ihreStimmewirktinsgesamt sanfter. Kann das wohl ausreichend mit dem Altersunterschied erklärt werden?
Es wird viel gewandert. Entlang des Wegs finden sichzahlreiche Bäche und Tümpel. An jedem Gewässer, auch wenn Martin selbst es überhaupt nicht bemerkt hat, macht seine Mutter ihn aufmerksam :»Ui, schau, was da wiederfür einschönerBachist. Dakannstduabertoll hineinpinkeln.« Oder: »Jetzt schau doch mal, magst du denn nicht in den Tümpel hineinpinkeln ?« Der Aufforderung kommt er jedesmal mit großer Geste nach. Das mütterliche Lob folgt dem hervorgeholten Penis auf dem Fuß. Beider Gefallen an der Zeremonie ist offensichtlich und geht über die Freude an der Erleichterung der Blase hinaus. Es ist die Freude am Demonstrieren des Geschlechts als Werkzeug, als etwas, das über die Person hinausgeht. Daß sich mit diesem Werkzeug männerverbindende Solidarität, der Triumph des »Wir-Männer« 13 , vom zartesten Alter an herstellen läßt, im Gegensatz zu der oft beklagten fehlenden Frauensolidarität, wird zwei Tage später nach der Ankunft von Martins Vater deutlich vorgeführt: Nach dem Würstchenbraten auf offener Feuerstelle ruft der Vater seinen Sohn: »Also wir Männer löschen jetzt das Feuer.« Und dann stehen beide breitbeinig nebeneinander und pinkeln in die Glut, daß es zischt und raucht. Die Rolle, die den anwesenden Frauen dabei wohl zugedacht ist, ist die des andächtigen, bewundernden Zuschauens. Versetze ich mich in die Lage der knapp zweijährigen Anneli, die dies mit unbefangener Neugier für ihre Umgebung betrachtet, so scheint das Entstehen von Penisneid unausweichlich. Sie sieht, daß es zweierlei Kategorien von Menschen gibt. Die eine wird
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