Typisch Mädchen
aber auf den Schönheitstrick wieder einmal herein. Wir kaufen und gehen nach Hause. Jetzt erwacht auch mein Ehrgeiz, dem Vater zu zeigen, was für ein »schönes Stück« wir erworben haben. Anneli soll es anziehen. Sie brüllt wieder und will nicht. Ihr ist das Kleid vollkommen gleichgültig. Da legen wir uns beide ins Zeug, denn schließlich hat das schöne Stück 60 Mark gekostet, und jetzt wollen wir etwas davon haben. Wir überreden sie damit, daß'eine Nachbarin, bei der sie gerne und oft ist, sie wegen des neuen Kleides und ihres Aussehens bewundern werde und daß sie sich ihr doch zeigen müsse. Daraufhin zieht Anneli das Kleid an und rennt zur Nachbarin, die sie auch entsprechend bewundert. Jetzt hat Anneli an der Situation Geschmack gefunden, es gefällt ihr, bewundert zu werden. Wenn das keine Erziehung zur Eitelkeit ist, zu dem typisch weiblichen Verhalten, anderen Personen zuliebe etwas zu tun, sich schön zu machen, um Bewunderung zu erregen, dann weiß ich nicht, woher die weibliche Eitelkeit sonst kommen könnte. Angeboren ist sie gewiß nicht.
28. Juli 1983 (1 Jahr; 11 Monate)
Immer wieder fordere ich Anneli auf, auf Personen zuzugehen. So schlug ich ihr heute am S-Bahnhof, als ein Kind weinte, vor, hinzugehen, nachzusehen, was los sei, und zu trösten. Sie tat es auch.
Abends ist Geburtstagsfeier bei einer Nachbarin. Wir sind eingeladen, und da ich weiß, daß dieser 75. Geburtstag groß gefeiert wird, überrede ich Anneli zu Kleid und Korallen-kette. Sie sieht sehr nett aus und wird entsprechend bewundert. Wiederholung der Situation von gestern. Durch häufiges Üben lernt die Frau!
29. Juli 1983 (1 Jahr, 11 Monate)
Anneli kommt von ihrer Babysitterin Tini zurück und hat knallrosa geschminkte Backen. Sie wollte sich genauso pinseln und anmalen, wie sie es bei Tini sah, und da schminkte Tini sie eben.
»Bei einem Buben hätte ich das natürlich nicht getan, denn ein Bub ist ja schließlich ein Bub«, bekomme ich als Antwort auf eine entsprechende Frage von Tini zu hören. Anneli bekommt von mir eine Klopfbank geschenkt, die ich einige Tage zuvor im Kinderzimmer von zwei Buben sah.
Natürlich soll sie auch Nägel einschlagen lernen und können. Sie hat's auch sehr schnell heraus.
Das Mädchen darf an das Werkzeug, nicht aber der Bub an die Schminke. Für sie ist es aufwertend, mit Werkzeug umgehen zu können wie ein Bub; für ihn ist es absolut lächerlich, mit Schminke umgehen zu lernen. Davon könnte er ja schwul werden, das Trauma vieler Söhne-Mütter. Wir fahren zu Ellen. Anneli hüpft und tanzt in der großen Halle des Hauses begeistert umher. Da nimmt Ellen sie aus ihrem Tanz heraus auf den Schoß und fragt ganz suggestiv, ob sie denn mal eine Ballettänzerin werden würde mit einem rosa Röckchen; dazu macht sie Anneli entsprechend graziöse Arm- und Handbewegungen vor. Anneli sagt »ja« und sieht Ellen sehr ernst und nachdenklich an. Sie ist merklich mit dem Gesagten beschäftigt. Ein Mädchen, das aus Freude an Bewegung hüpft und tanzt, wird entsprechend festgelegt, Bewegung ist nicht das Normale, es wird zur Besonderheit uminterpretiert.
4. August 1983 (2Jahre)
Schon wieder zum Thema Penisneid: Anneli ist im Kinderladen in einer kleinen Kindergruppe. Alle pinkeln. Max im Stehen, indem er sich den Topf unter seinen Schwanz hält. Anneli steht daneben und schaut zu, so wie sie eben auch bei anderen Kindern zusieht. Sie registriert: »Max Schwanzi.« Anschließend spielen die Kinder Zugfahren. Aus welchen Gründen auch immer, wohl weil er ein Jahr älter ist, ernennt sich Max zum Zugführer und dirigiert die Kinder - drei Mädchen - herum. Gleiches beim Einkaufen-Spiel. Max ist der selbsternannte Chef und verkauft; die anderen sollen alle folgen und müssen kaufen, was er will.
Ich bin mir sicher, daß Anneli und die anderen Mädchen hier einen Zusammenhang herstellen zwischen seiner Anatomie und dem, was er alles darf. Die Kindergärtnerin läßt ihn nämlich auf Dauer unumschränkt herrschen, spielt das Spielchen mit und läßt sich ebenfalls von ihm befehligen.
Wir sind bei einer Familie mit zwei Töchtern (vier und sieben Jahre alt) eingeladen. Die drei Kinder rasen sowohl im Garten als auch später beim Spaziergang wild herum und toben ausgiebig. Die Gastgebereltern sehen vom Kaffeetisch aus zu und erläutern: »Sie sind wie die Buben - aber das dürfen sie ja.« Damit haben sie uns den Beweis geliefert, wie progressiv und liberal sie in puncto Erziehung sind. Für mich
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