Typisch Mädchen
sie solche Wirkung hervorgerufen hat.
Alle diese Haar- und Frisurgeschichten wären mit einem Buben niemals geschehen. Ich frage testweise einige Tage später Isabell, die Mutter des viereinhalbjährigen Ben. Sie gibt zu, Ben nachdrücklich ausgeredet zu haben, mit Haarklammern und -spangen seiner Schwestern im Haar in den Supermarkt zu gehen, wie er es wollte, weil sie befürchtete, daß er ausgelacht hätte werden können. Als er dann damit wenigstens in die Familie seiner Tagesmutter gehen durfte, trat das Befürchtete auch ein: Der Tagesvater und der 13jährige Sohn der Familie schütteten sich aus vor Lachen und klärten Ben auf, daß das doch nichts für einen Mann (viereinhalb Jahre) sei. Gleiches widerfuhr ihm, als er mit lackierten Fingernägeln aufkreuzte.
So achten Frauen und Männer peinlich auf die Einhaltung des Männlichkeitskodex. Ben, der unter lauter Frauen und Mädchen in seiner Familie aufwächst, schien jedenfalls von Natur aus nicht unter einem Männlichkeitskomplex zu leiden. Dieser wurde ihm, so er einen in Zukunft haben wird, von Männern durch deren Engstirnigkeit und mangelnde Phantasie beigebracht.
3. Oktober 1983 (2Jahre , 2 Monate)
Anneli schneidet gerne mit der Schere. Wir nehmen uns das Deckblatt eines Reisekatalogs zum Schnipseln, weil es so schön bunt ist. Ehe sie jedoch zu schneiden beginnt, betrachtet sie ausgiebig das Titelbild. Folgendes ist zu sehen: ein Ferienhaus, auf der Terrasse davor sitzen am Frühstückstisch, der wohlgedeckt ist, Vater und zwei Kinder, die Mutter eilt mit einem Tablett voller Geschirr gerade aus der Küche herbei. Das typische Familienklischee, alles lächelt, am meisten die Mutter.
Anneli genügt es aber leider nicht, das zu betrachten, nun will sie mit mir über das Bild reden. Wer das alles sei, wer gerade warum was mache. Warum sitzen der Vater und die Kinder, und die Mutter schleppt das Zeug herbei? Ich werde über meine eigenen Erklärungen wütend. Kann ich denn nicht einmal zum harmlosen Zerschnippeln irgendeinen Fetzen Papier nehmen, ohne Anneli gleich die ganze patriarchale Familienideologie vermitteln zu müssen? Muß ich denn im Haus alles zensieren, ehe ich es Anneli in die Hand gebe? Mir wird wieder klar, ähnlich schon wie bei ihren Feststellungen zu »Frau nackig«, wie sehr Reklame, die uns zum großen Teil aufgezwungen wird und der wir nicht mehr ausweichen können, zum Kulturträger geworden ist und unsere »Kultur« auch an die Kleinen weitervermittelt, für die das Bilder wie alle anderen sind.
Anschließend an die Betrachtungen zerschnippeln wir die ganze Familienidylle. Mir hat's geholfen; ich weiß nicht, welcher Teil bei ihr stärker wirkte.
13. Oktober 1983 (2Jahre, 2 Monate)
Anneli und ich besuchen Regina und ihren Sohn. Sebastian ist einen Monat jünger als Anneli. Es geht im Gespräch wieder einmal fast ausschließlich um die Kinder. Unter anderem erzählt Regina von Sebastians Spiel-Werkzeugkasten, von Hammer, Zange und Nägeln aus Holz, mit denen er gerne spielt. Gleichzeitig behauptet sie, daß er auch mit dem richtigen Hammer Nägel einschlagen könne, er habe das von selbst gekonnt. Unabhängig davon, ob ein Kind in diesem Alter mit richtigem Hammer und Nägeln umgehen kann, war mir daran interessant, daß der Junge bereits vor seinem zweiten Geburtstag an Werkzeug herangeführt und entsprechendes Spielzeug beschafft wurde. Anneli hatte das nicht. Ich war auch noch nicht auf die Idee gekommen, außer der Klopfbank Werkzeug anzuschaffen. Mir ist das Anlaß, meine Tochter-Mutter-Ignoranz in puncto Werkzeug (was mir nichts bedeutet, bedeutet auch meiner Tochter nichts) aufzugeben. Ich gehe also mit ihr in den Baumarkt, und Anneli und ich entscheiden uns für einen kleinen Vierkantschraubenzieher. Annelie ist mächtig stolz darauf, daß sie einen Schraubenzieher besitzt, steuert aufs Fahrrad zu und beginnt, »Radi zu reparieren«. Als wir so stehen, kommt eine Angestellte des Baumarkts hinzu: »Ja, Buale, kannst du schon Radi repa-riern; das ist ja prima, und so einen schönen Schraubenzieher hast. Gell, so was braucht man schon zum Rumwerkeln. Da kannst deiner Mama im Haus aber viel reparieren, und dann mußt Automechaniker werden.«
Kann frau sich die gleiche Szene vorstellen, wenn Anneli ein Röckchen angehabt hätte und als Mädchen sofort erkennbar gewesen wäre? Ich glaube, mit dem Automechaniker wäre es dann wohl nichts geworden.
Wir radeln weiter zum Papierwarengeschäft, um eine Kinderschere zu kaufen.
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