Typisch Mädchen
das Geschlecht mit den begehrten Tätigkeiten, die genau eingeteilt sind. Ich bin sauer. Nun gibt es doch in Berlin wirklich viele Frauen zu sehen, die Motorrad fahren. Warum klappt denn nicht mal hier die Loslösung von den traditionellen Mustern?
"Wir kommen in den Kinderladen; wie immer schon ein bißchen spät. Alle stehen im Garten um den Bollerwagen, der frisch renoviert wurde und jetzt zusammengesetzt werden soll. Regine, die Erzieherin, und Utz, der Betreuer, stehen nebeneinander. Dann beginnt Utz am Wagen zu handwerkeln, um ihn für die Reise mit den Kindern in den Stadtpark fit zu machen. Regine bleibt stehen. Anneli fragt: »Wann ist denn der Bollerwagen fertig?« Ich antworte: »Da mußt du den Utz fragen.« Wieso verweise ich Anneli an Utz und nicht an Regine? Anneli lernt: Wenn Frau und Mann gleichzeitig anwesend sind, so ist doch der Mann der Kompetentere, der um Auskunft zu bitten ist. Er hat das Wissen; Fragen sind an Männer zu richten. Auf diese Weise werden Frauen und Mädchen natürlich auch sehr früh an das bei ihnen typische, in Frageform gekleidete Sprechverhalten gewöhnt. Ich unterhalte mich mit Regine und Utz über unterschiedliches Verhalten gegenüber Mädchen und Buben im Kinderladen. Utz gibt zu, Mädchen für die Sensibleren zu halten. Das rühre eben von seiner Vorstellung von Frauen her. Daher gehe er auch entsprechend sanft und zärtlich in Sprache und Spielen auf sie ein.
17. Mai 1984 (2Jahre, 9 Monate)
Auf dem Nachhauseweg plaudert Anneli im Auto vor sich hin:
»Mami, da bist du noch nicht in die obere Schule gegangen, weil du keinen Ranzen hast; aber damals, als ich noch kleiner war und ein Mädchen, da bin ich auch noch nicht in die Schule gegangen, aber wenn ich dann ein größerer Bub bin, gehe ich in die obere Schule und hab einen Ranzen.« Größer, Können, Dürfen ist immer noch an das männliche Geschlecht gebunden. Ich bin mir wirklich keiner Schuld bewußt - oder doch, wenn ich zum Beispiel gleich an die Geschichte mit dem Bollerwagen denken muß.
Klaus war mit Anneli auf dem Spielplatz um die Ecke, nahe unserer Wohnung.
Es sind noch zwei Kinder ungefähr in Annelis Alter da. Beide haben Zöpfchen. Als Anneli die Kinder nach dem Namen fragt, stellt sich heraus, daß eines davon ein Bub ist. Das erste Mal, daß ein Bub mit typischerweise nur Mädchen vorbehaltenem Aussehen in der Öffentlichkeit herumläuft. Welche Wohltat, daß auch ein Bub einmal für ein Mädchen gehalten wird. Das muß wohl an Berlin liegen, denke ich. Doch es soll gleich ganz anders kommen: Ein ganz normal aussehender Mann, etwa Mitte 40, kommt auf den Spielplatz. Er scherzt ein wenig mit den Kindern und spricht von sich aus die beiden Kinder mit Zöpfchen als Mädchen an. Dann stellt er Anneli die unvermeidliche Frage nach ihrem Geschlecht.
Sie sagt: »Ich bin ein Junge«, und er drückt ihr doch glatt die Hand mit den Worten: »Da gratuliere ich dir aber.« (Anneli weiß genau, was gratulieren bedeutet. Sie hat es schon auf den verschiedenen Geburtstagen mitgekriegt.) Etwas später geht sie ohne Aufforderung zu ihm hin und sagt: »Ich bin aber ein Mädchen.« Er will es nicht glauben und verneint ihr gegenüber ganz energisch, das könne doch nicht sein, sie sähe gar nicht so aus. So bildet sich auch Selbstwert.
Zur gleichen Zeit sitzen auf dem Spielplatz mehrere Paare. Die Frauen sprechen mit den Kindern, wenn diese herbeikommen, und beobachten das Geschehen. Die Männer sind alle mit Lesen beschäftigt und signalisieren in ihrer ganzen Körperhaltung und Art Desinteresse am Geschehen. Sie fühlen sich der Frauen-Kind-Welt nicht zugehörig. So erfahren Kinder die Botschaft, daß Männer immer mit anderen Dingen, mit Wichtigem außerhalb der Kinderwelt beschäftigt sind; Frauen dagegen sind wie die Kinder, denn sie leben mit den Kindern in ihrer Welt.
Ich stoße mich immer wieder an dem Widerspruch zwischen der real existierenden Welt mit all den Sexismen und Benachteiligungen für die kleinen Mädchen und der Welt, wie ich sie Anneli in Geschichten und Erklärungen vorgebe. Es ist die von mir erträumte Welt. Warum belüge ich sie? Ich denke über herkömmliche Erziehungs- und Moralvorstellungen nach. Wurde nicht auch uns, der Generation der 50er Jahre, eine andere Welt als Realität dargestellt? Ist es denn nicht bisher überhaupt so üblich gewesen, Kindern die Welt in der Erziehung so zu schildern, wie sie die Erwachsenen jeweils gerne gehabt hätten? Fielen nicht auch in der
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