Typisch Mädchen
herkömmlichen Erziehung schon immer das Kindern nahegebrachte Ideal und die Realität auseinander? Mir fällt die christliche Lehre ein. Ich lege meine Gewissensbisse ab. Beim Frühstück sagt Anneli: »Jetzt hab ich so viel gegessen, jetzt werd ich dick, und dann bin ich ein Mann.« Ich entgegne: »Der Papi ist aber nicht dick, wieso sind Männer dick?«
Sie flüchtet sich jetzt in folgende Aussage: »Aber die blöden Männer sind dick.«
So genau habe ich bis jetzt noch gar nicht wahrgenommen, daß in unserer Gesellschaft die Männer die Masse des Gewichts auf die Waage bringen. Ich schaue mir den Mann auf der Straße daraufhin an. Es stimmt. Anneli hat recht. Das Kind zieht jetzt bereits den Schluß von einer äußeren Eigenschaft auf das Geschlecht. Da sie noch nicht weiß, daß Geschlecht etwas einmalig Festgelegtes ist, glaubt sie mit dem jeweiligen Äußeren oder einer bestimmten Betätigung auch das Geschlecht jeweils neu festlegen zu können. Sie hat damit verstanden, daß Geschlechtern unterschiedliche, aber nach gewissen Regeln fest zugeordnete Eigenschaften zukommen. Das Prinzip unserer Gesellschaft ist in ihr bereits verankert, daß äußere Eigenschaften, und diese schön getrennt nach Geschlecht, die Frau oder den Mann machen, nicht jedoch die wirklichen körperlichen Unterschiede.
Anneli und ich besuchen eine Bekannte, die Erzieherin ist, in den Ferien in ihrem Kindergarten. Erstaunlicherweise sehen wir bis auf ein Mädchen nur Buben. Kathrin ist die Tochter der Bekannten. Ich spreche sie darauf an, warum denn nur Buben in ihrer Gruppe seien, und höre; »Tja, das ist immer so in den Ferien, daß die Mütter nur Buben in den Kindergarten schicken, damit sie zu Hause ihre Ruhe haben; die sind nämlich im Haus zu nervig, machen ewig bloß Unordnung und folgen nicht. Die Mädchen sind ja da ganz anders, nicht so wild und so. Die kann man schon leichter zu Hause haben; da gibt's kein Chaos, und außerdem gehen sie den Müttern bei den Hausarbeiten schon mal ein bißchen zur Hand oder wenigstens sehen sie's dann, wie's geht - für später mal.«
Auf meine Frage, wieso sie das vermute, gibt sie mir zur Antwort: »Das vermute ich nicht, das erzählen mir die Mütter so, wenn sie ihre Buben in den Ferien abgeben oder die Mädchen nicht bringen.«
Nebenbei, während unseres Gesprächs, probiert sie an ihrer Tochter ein Kittelchen aus Filzstoff mit passender Zipfelmütze. Ich erkundige mich bei Kathrin (vierdreiviertel Jahre), wofür sie denn das schöne Kostüm bekomme. Da schaltet sich wieder die Mutter ein und erklärt: »Das ist nicht für Kathrin, das ist für das Sommerfest im Kindergarten. Da gehen die Kinder in meiner Gruppe als Zwerge, und weil die Buben hier zum Probieren nicht stillhalten wollen - es ist ja wirklich furchtbar, aber man kann doch keinen festhalten -drum probiert jetzt Kathrin für die Buben die Kostüme. Gell, Kathrin, du bist so lieb und hilfst der Mama.« 42 Kathrin nickt und sitzt brav da, während ungefähr 15 Buben um sie herum toben und rennen, deren Kostüme sie probiert.
Und Anneli sieht und hört auch das alles.
Anneli und ich fahren wieder einmal nach Südtirol auf den Bauernhof. Bei unserer Ankunft begrüßen wir nur die Bäuerin, der Bauer und die Kinder sind unterwegs. Also geht Anneli erst mal mit mir in unser Zimmer. Als sie dann nach einer Weile die Stimmen der Kinder unten hört, beschließt sie sofort, allein in die Küche runterzugehen. Klar, sie kennt sich aus in den Räumen, und auch die Personen auf dem Hof sind ihr alle bekannt.
Nach wenigen Minuten kommt sie aber schon wieder ins Zimmer geschlichen und ist sehr kleinlaut. Ich frage nach dem Grund. »Mami, ich bin nicht reingegangen, ich hab mich nicht getraut; da war ein Mann, und da hab ich Angst gehabt.«
Ich stelle mir daraufhin einen furchterregenden Südtiroler Waldschrat vor, der im Haus herumschleicht, bin voller Verständnis und gehe mit ihr hinunter.
Da stellt sich heraus, daß schlicht und einfach der Bauer mit seiner Familie am Küchentisch hockte. Vor ihm hatte sie Angst gehabt! Beinahe hätte ich jetzt Anneli ausgelacht, doch da fällt mir gerade noch rechtzeitig ein, daß Bernadette beim letzten Abschied vor zwei Monaten mir ins Ohr geflüstert hatte: »Aber das nächste Mal bringst den Dada (= Vater) nicht mit, gell. Den mag i ned so, vor dem fürchd i mi.« Und das war Annelis Vater, der bestimmt auch kein furchterregender Mann ist, sondern mit den Kindern viel spielte. Auch Anna
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