Typisch Mädchen
hatte bei unserer letzten Ankunft mit Vater, nachdem sie sich zuerst sehr über Anneli und mich gefreut hatte, beim Anblick von Klaus den Rückzug angetreten. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit. Es war so lange beim Spiel mit anderen Kindern gemütlich und schön, wie nur die jeweilige Mutter anwesend war. Tauchte ein Vater auf, empfand ich diese Tatsache immer als etwas beklemmend, die Stimmung war kaputt, wir fühlten uns nicht mehr ungehemmt und verstanden. Die Autorität lauerte irgendwo, auch wenn sie tatsächlich nie in Erscheinung trat. Der Mann war das uns störende Element. Wir zogen es dann meistens vor, das Spiel zu beenden und nach Hause zu gehen. Offenbar herrscht bei Kindern Fremdheit, Respekt oder Furcht vor den Männern, die nicht unmittelbar zum engsten
Bereich des Kindes gehören. Ich beginne daraufhin mein eigenes Verhalten zu überdenken:
Ist es nicht so, daß mir manchesmal in kritischen Situationen das Wort entschlüpft: »Du, da glaub ich aber, daß der Herr G. schimpfen wird« oder »Das machen wir lieber nicht, da wird nämlich sonst der Herr G. sauer.«
Diese Äußerungen entsprechen vollkommen meiner inneren Überzeugung, wenn ich mit den Kindern zusammen bin. Von Frau G. weiß ich, was immer die Kinder für Unsinn machen oder wenn sie etwas anstellen, sie wird es irgendwie verstehen und in Ordnung bringen. Bei ihm dagegen bin ich mir nicht sicher; ich fühle mich genauso fremd und leicht unsicher bis ungemütlich in seiner Gegenwart, wenn ich Kinder bei mir habe - wie in meiner Kinderzeit. Seiner Frau gegenüber habe ich das Gefühl der Sicherheit und der Berechenbarkeit der Reaktion, des Vertrauten.
Anders dagegen, wenn ich mit ihm alleine bin oder nur unter Erwachsenen, beispielsweise beim abendlichen Gespräch. Dann bin ich völlig frei und unbefangen, rede mit ihm von gleich zu gleich (er ist sechs Jahre jünger als ich), eben ganz normal. Nur in Gegenwart von Kindern, für die ich mich verantwortlich fühle, will ich ihn möglichst wenig belästigen, unauffällig sein und ziehe mich mit den Kindern von ihm zurück. Ich verbünde mich mit dem Kind, fühle mich auf seiner Seite - ich identifiziere mich mit dem Kind. Bin ich es selbst mit dieser Haltung, die den Kindern die Botschaft vom furchterregenden Mann weitergibt? Machen es die anderen Frauen womöglich genauso? Wie entsteht denn sonst die Angst vor dem Mann - speziell bei den kleinen Mädchen?
2. Juni 1984 (2Jahre, 10 Monate)
Wir sind wieder einmal in Bozen Schuhe kaufen. Anneli wird natürlich wegen ihrer langen Locken überall als Mädchen angesprochen. Macht ja nichts - so denke ich. Im Schuhladen unterhalten sich die Verkäuferinnen intensiv mit Anneli. Als Anneli erzählt, sie habe bald Geburtstag, ist folgendes zu hören: »Da wünschst du dir eine Puppe, gell.« Und dann wird ausführlich die zu wünschende Puppe beschrieben.
Puppen spielten bislang bei Anneli noch keine große Rolle. Am nächsten Tag, zufällig von irgendeiner anderen fremden Person befragt, was sie sich denn zum Geburtstag wünsche, kam prompt die Antwort von Anneli: »Eine Puppe.« Ich zweifle sehr daran, ob das wirklich ihr eigener Wunsch ist, und bin sauer darüber, wie sich wildfremde Personen erdreisten, ein Kind nur aufgrund seines Aussehens bereits auf bestimmte Wünsche und Vorlieben festzulegen, ohne daß diese möglicherweise dem Kind entsprechen. Der vielgerühmte »Mensch« als solcher bleibt dabei jedenfalls auf der Strecke. Ich bin wild entschlossen, Anneli nicht mehr jeder dummen Fixierung auf das Typische eines Mädchens auszuliefern. Die Locken werden fallen.
Anneli braucht auch dringend eine Bluse für den Sommer. Im Laden werden Blusen mit Rüschen, in Weiß, in Satin, in allen anderen denkbaren teuren Stoffen und unpraktischen Farben und Mustern vorgelegt. Den Alltag mit Dreck und Spaghetti-Essen scheint es bei Mädchen nicht zu geben. Ich verlange Bubenhemden. Die Verkäuferin überhört meinen Wunsch dreimal und weist dann - Gipfel ihrer Bedenken - auf die umgekehrt angebrachten Knöpfchen hin. Aber die Farben und Muster der Bubenhemden sind so häßlich und traurig, daß ich auch darauf verzichte.
3. Juni 1984 (2Jahre, 10 Monate)
Abends kommt die Tante und schneidet allen drei Kindern, also Bernadette (fünf Jahre), Anna (drei Jahre) und Anneli, die Haare sehr kurz. Es ist für die Kinder eine Riesengaudi, und sie freuen sich über ihre neuen Köpfe. Anneli konstatiert erleichtert: »Jetzt rupft das Frisieren nicht
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