Über das Haben
Erkennen [
connaître
] eine Modalität des HABENS , insofern sich ein erkennendes Ich die von ihm erkannten Objekte aneignet und sie dabei zugleich produktiv oder destruktiv verändert, so dass es von ihnen sagen kann: «Ich bin, was ich an Objekten besitze» [
je suis ces objets que je possède
].
Ausgehend von diesem eigenartigen Possessivismus des frühen Sartre, ist kaum zu übersehen, dass mit ihm bereits die Voraussetzungenfür jenen Existenzialismus geschaffen sind, der den Menschen, frei von jeder vorgegebenen «Essenz», in eine blanke «Existenz» wirft, in der alles («engagierte») Handeln Besitzergreifung einer «jungfräulichen Zukunft» ist. So ist diese Thematik von Sartre auch in seinem Atridendrama «Die Fliegen» (
Les Mouches,
1947) dargestellt worden.[ 4 ] Erst nachdem nämlich Orest – ein Hamlet ohne Zögern und Zweifeln – seine Bluttat als Rächer eines schweren Verbrechens begangen hat, HAT er zu seiner (gegebenen) Existenz auch eine (frei gewählte) Essenz. Und so kann er nun von sich sagen: «Ich BIN dazu verurteilt, kein anderes Gesetz zu HABEN als mein eigenes» [
Je suis condamné à n’ AVOIR d’autre loi que la mienne
]. Und: «Ich BIN meine Freiheit» [
Je SUIS ma liberté
].
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Der dritte französische Denker, der im 20. Jahrhundert das Nachdenken über das HABEN ein Stück weit vorangebracht hat, ist Pierre Bourdieu (1930–2002). Er hat als Soziologe am Collège de France für dieses Denkprogramm einen eigenen Begriff eingeführt, nämlich «Habitus».[ 5 ] Dieser ist abgeleitet von lat.
habere
(«haben»), soll aber nach dem erklärten Willen des Autors in erster Linie das griechische Wort
hexis
wiedergeben, das bei Aristoteles, neben dem zugehörigen Verb
echein,
das HABEN im Sinne seiner achten Kategorie meint (vgl. Kap. 1). Vor Bourdieu hatten in Deutschland auch schon der Philosoph Edmund Husserl und in den Vereinigten Staaten der Kunstkritiker Erwin Panofsky mit dem Begriff Habitus gearbeitet.
Als militanter Linker hat Bourdieu in seiner HABITUS -Lehre zeitlebens einen leidenschaftlichen Mehr-Fronten-Krieg geführt: einerseits gegen die Labor-Finessen einer strikt subjekt-orientierten Bewusstseins-Philosophie, andererseits gegen einen geschichtslosen Strukturalismus, der die handelnden Personen als Individuen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen verschwinden lässt. Auch von Sartres Existenzialismus distanziert er sich in mehrfacher Hinsicht.
Doch genau in der Mitte zwischen Sartres Existenz, die jemand IST , und der Essenz, die jemand HABEN kann und soll, hat Bourdieu seine Habitus-Lehre in Stellung gebracht, die den Druck der gesellschaftlichenVerhältnisse zwar nicht in Zweifel zieht, gleichwohl aber jedem Einzelnen aus den historischen Gegebenheiten seiner Lage ein bestimmtes Verhalten zuspricht, das fest «zu ihm gehört». Dieser HABITUS ist also aufzufassen als ein praktischer Bestand von erworbenen Dispositionen, die fallweise ein bestimmtes Handeln nahe legen, ohne es jedoch zu erzwingen. Unter diesen Bedingungen kann der HABITUS als ein GUTHABEN angesehen werden, mit dem eine Person in ihrem Leben wie mit einem (symbolischen) Kapital zielstrebig wirtschaften kann.
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SEIN UND HABEN RADIKAL – MIT UND GEGEN ERICH FROMM
Der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) musste im Jahre 1933 von Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrieren. Nach einer langjährigen Professur in Mexiko hat er dann seine letzten Lebensjahre in der Schweiz verbracht. Dort hat er auch in englischer Sprache das Buch «
To Have or to Be?»
geschrieben, das im Jahre 1976 in New York veröffentlicht wurde. Es ist zeitgleich unter dem Titel «Haben oder Sein?» in deutscher Übersetzung erschienen.[ 1 ]
In seinem Buch geht der Autor von der einfachen Feststellung aus, dass jeder Mensch etwas IST und etwas HAT . Damit sind nach seiner Auffassung zwei Wege der Erfahrung bezeichnet, die in der menschlichen Existenz weit auseinander führen können, und zwar als «Existenzmodus des SEINS » [
being mode of existence
] einerseits und als «Existenzmodus des HABENS » [
having mode of existence
] andererseits. Die gleiche Alternative charakterisiert die ganze westliche Zivilisation, in der sich nach der kulturkritischen Überzeugung von Erich Fromm zwischen diesen beiden antithetischen Modalitäten ein tiefer Graben aufgetan hat, der nahezu unüberbrückbar geworden ist.
Auch die moralischen Bewertungen sind damit – ganz unaristotelisch – festgelegt: Das SEIN ist
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