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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Weinrich
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gut, das HABEN böse. Das zeigt sich, so Fromm, in bestürzender Klarheit schon in der biblischen Geschichte von der Versuchung Jesu in der Wüste. Ihn, der den Menschen ein Leben im SEINS -Modus vorlebt, versucht Satan – vergeblich – zum HABEN zu verführen. Die moderne Gesellschaft hingegen weiß dieser Versuchung nicht zu widerstehen. Es charakterisiert also deren abgründiges «Heidentum» [
western paganism
], dass die Menschen in Europa und Amerika mit überwiegender Mehrheit für den HABEN -Modus und gegen den SEINS -Modus optiert haben. Sie haben sichzu ihrem Unglück dafür entschieden, der fatalen Maxime zu folgen: «
I AM what I HAVE
».
    Wie ist es nun zu verstehen, dass Erich Fromm als «radikaler Humanist» in seiner Ethik solch ein manichäisches Schwarz-Weiß-Denken praktiziert und das HABEN nicht nur anschwärzt, sondern geradezu verteufelt? Es hängt wohl letztlich damit zusammen, dass Fromm als Psychoanalytiker und Freudianer vom Verhalten des Kleinkindes ausgeht, das einen Gegenstand, den es HABEN will, gerne in den Mund steckt, ihn also sich einverleiben möchte [
«introjection» –
vgl. Sartre in Kap. 5]. Nach diesem Kindheitsmuster stellt auch noch alles HABEN-WOLLEN des erwachsenen Menschen eine zwanghafte Form der Besitzergreifung und Aneignung von begehrten «Sachen» [
things
] dar und äußert sich triebhaft als Habgier [
greed
]. Selbst wenn jemand Ideen oder Überzeugungen, Freunde oder Weggefährten HAT , ist das tendenziell immer noch eine Form des HABENS , die von Besitz und Eigentum nur mühsam zu unterscheiden ist. Kein Wunder also, wenn nach diesem elementaren Muster der ganzen Gesellschaft nachgesagt werden kann, dass sie immer mehr zu einer reinen HABEN -Gesellschaft [
having society
] mutiert und pervertiert.
    In historischer Betrachtung ist Erich Fromm weiterhin davon überzeugt, dass die zunehmende Vorherrschaft und Gewaltherrschaft des HABENS in der westlichen Gesellschaft mit der unseligen Erfindung des Privateigentums zusammenhängt: «Das Wesen des HABEN -Modus der Existenz ergibt sich aus dem Wesen des Privateigentums» [
The nature of the having mode of existence follows from the nature of private property
]. Jean-Jacques Rousseau lässt inkognito grüßen.
    *
    Was ist im Kontrast dazu von der menschlichen Existenzform des SEINS -Modus zu sagen, die dem HABEN -Modus «unversöhnlich» [
irreconciliably
] entgegensteht? Nur Gutes. So bezeugt es schon die Bibel, zunächst das Alte Testament (das Sabbat-Gebot!) und sodann für Fromm «noch radikaler» das Neue Testament (die Bergpredigt!). Weitere Zeugen sind ihm Buddha für den Osten und Karl Marx für den Westen. Hauptzeuge ist für Erich Fromm jedoch Meister Eckhart,der große deutsche Mystiker (1260–1327), der als Dominikaner-Mönch schon durch sein Gelübde der Armut dem HABEN -Modus abzuschwören hatte. Von ihm gibt es in deutscher Sprache eine Predigt über die mönchische Armut, die nicht nur materielle Bescheidung, sondern auch die biblische Armut im Geiste umschließt. Erst nach einem «vollständigem Verzicht» auf den HABEN -Modus, so interpretiert Erich Fromm diese Dominikanerpredigt, gelangt der Mensch zur Vollkommenheit der Selbstverwirklichung im Modus des SEINS .
    Näher an den Lebensbedingungen unserer Welt trifft sich Erich Fromm als Prophet des NICHT-HABENS schließlich mit Karl Marx. Aber gemeint ist hier nur der junge Marx, dessen revolutionärer Impetus mit Erich Fromms eigenen Vorstellungen von einem radikalen Humanismus weitgehend zur Deckung kommt. Mit Blick auf diesen «wirklichen Marx» ruft Erich Fromm dazu auf, den Durchbruch vom Existenzmodus des HABENS zum Existenzmodus des SEINS zu wagen, um auf diese Weise den «neuen Menschen» und eine von ihm zu erfindende «neue Gesellschaft» zu schaffen. Auf sie richtet Erich Fromm (jedoch weit entfernt vom damals noch real existierenden Sozialismus und Kommunismus) alle seine Hoffnungen.
    War und ist diese Hoffnung auch realistisch? In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Erich Fromm seine Gedanken über SEIN und HABEN niederschrieb, zeigten sich ihm am dunklen Horizont der Zeit erste verheißungsvolle Vorzeichen. Denn hier und dort hatten sich damals mit den radikal-politischen Impulsen der spät-sechziger Jahre schon einige Gruppen junger Leute zusammengetan, um enttäuscht vom Reichtum, Luxus und Überfluss ihrer Elterngeneration ein neues und möglichst HABEN -freies Leben einzuüben, nicht nur im Umgang mit materiellen

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