Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Domenico Borasio
Vom Netzwerk:
spezialisierte diabetologische Station vorhanden ist. Niemand stellt die Sinnhaftigkeit solcher Spitzeneinrichtungen zur Versorgung der allerschwersten Fälle (und auch als Basis für die Wissenserweiterung durch Forschung) in Frage. Aber kein vernünftiger Mensch würde jemals vorschlagen, in jedem noch so kleinen deutschen Krankenhaus eine hochspezialisierte Diabetes-Station einzurichten. Und doch gibt es Akteure im Gesundheitswesen, welche genau dies für Palliativstationen fordern.
    Abbildung 3.1: Die Versorgungspyramide am Lebensende in Deutschland.
Was ist noch zu tun?
    Die Rolle der niedergelassenen Haus- und Fachärzte in der Sterbebegleitung muss in ihrer zentralen Bedeutung verstanden und gefördert werden, und zwar sowohl durch Fortbildungsangebote als auch durch eine leistungsgerechte Vergütung – schließlich sollen sie ja 90 Prozent der Arbeit am Lebensende stemmen. Die sogenannte «Allgemeine Ambulante Palliativversorgung» (AAPV) darf also auf keinen Fall vernachlässigt werden. Sonst hätten wir die paradoxe Situation, dass zwar die 10 Prozent besonders schwer erkrankten Menschen am Lebensende eine gute palliativmedizinische Betreuung bekommen können (vorausgesetzt, sie erhalten Zugang zu einem SAPV-Team), aber die 90 Prozent «nicht-ganz-so-kranken» Sterbenden mit mangelhaft ausgebildeten und unzureichend für diese Aufgabe bezahlten niedergelassenen Ärzten vorliebnehmen müssen. Das kann nicht der Sinn der Sache sein.
Die Ausbildung der Medizinstudenten
    Das ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung der medizinischen Sterbebegleitung: Medizinstudenten müssen nunmehr Palliativmedizin als Teil ihrer ärztlichen Kernkompetenz im Studium vermittelt bekommen. Das war bis vor kurzem nicht der Fall. Die Universität München führte 2004 als erste Universität in Deutschland die Palliativmedizin als Pflichtfach ein, wobei von Anfang an auch Pflegende, Psychologen, Sozialarbeiter und Seelsorger in die Lehre eingebunden wurden. Nur wenige andere Universitäten zogen nach, bis 2009 waren es sechs von insgesamt 36. Sozusagen «im Windschatten» der Gesetzgebung zur Patientenverfügung (siehe Kapitel 8) gelang es 2009, Palliativmedizin als Pflichtlehr- und Prüfungsfach in die Approbationsordnung für Ärzte einzubringen. Mehrere Anläufe dazu waren in den Jahren zuvor gescheitert. Damit es 2009 klappte, bedurfte es einer Verkettung glücklicher Umstände.
    Der Verfasser dieses Buches war am 4. März 2009 als Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren zur Patientenverfügung beim Rechtsausschuss des Bundestages eingeladen. Um auf die dringende Notwendigkeit eines Ausbaus der Lehre im Fach Palliativmedizin hinzuweisen, stand auf jeder Seite meiner schriftlichen Stellungnahme die Fußzeile «CETERUM CENSEO MEDICINAM PALLIATIVAM ESSE DOCENDAM».[ 5 ] Außerdem hatte ich für das mündliche Statement am Anfang der Anhörung die folgende Passage vorbereitet: «Verehrte Mitglieder des Rechtsausschusses! Sie lassen es seit Jahren zu, dass 90 Prozent der Medizinstudenten in Deutschland ihre Approbation als Arzt bekommen, ohne die geringste Ahnung von Palliativmedizinund Sterbebegleitung zu haben. Sie nehmen damit billigend in Kauf, an Ihrem Lebensende mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit an eben einen solchen Arzt zu geraten. Das nenne ich selbstschädigendes Verhalten.» Nach diesen Worten wurde es im großen, randvoll mit Abgeordneten und Publikum gefüllten Anhörungssaal des Bundestags sehr still. Nur eine Woche später erreichte mich ein Anruf aus der Regierungsfraktion, die um einen Formulierungsvorschlag für ein entsprechendes Gesetz bat. Über diesen Vorschlag sollte am 19. Juni im Bundestag abgestimmt werden.
    Vor der Abstimmung versuchte der Medizinische Fakultätentag (die mächtige Vereinigung aller medizinischen Fakultäten Deutschlands), das Gesetz noch zu verhindern. In einer Presseerklärung ließ der Fakultätentag allen Ernstes verlauten: «Die Palliativmedizin hat in der klinischen Lehre bereits eine wichtige fächerübergreifende Stellung und ist Teil der ärztlichen Abschlussprüfung. Eine weitere Regelung leuchtet daher nicht ein.» Der Gesetzentwurf solle daher «von überflüssigen Nebenwirkungen entschlackt werden».[ 6 ] Diese dreiste Abwehrbehauptung rief die Bundesvereinigung der Medizinstudierenden (bvmd) auf den Plan, die sich seit Jahren für die palliativmedizinische Lehre starkgemacht hatte. In einer Pressemitteilung

Weitere Kostenlose Bücher