Über das Sterben
besteht nicht darin, den Menschen die Entscheidungen abzunehmen, sondern ihnen zu helfen, die
für sie in ihrer aktuellen Lebenssituation angemessenen Entscheidungen
selbst zu treffen. Das müssen nicht unbedingt Entscheidungen sein, die man gemeinhin als «vernünftig» betrachten würde, denn es geht in diesem Zusammenhang um den Respekt vor der Selbstbestimmung des Menschen. Diese schließt grundsätzlich auch das Recht ein, Entscheidungen zu treffen, die, von außen gesehen, als nachteilig oder gar selbstschädigend empfunden werden (zudem stellt die Bewertung von Entscheidungen anderer als «nachteilig» immer eine Fremdeinschätzung dar und ist daher von vornherein fragwürdig).
Was ist also genau die ärztliche Aufgabe im Prozess der Entscheidungsfindung, und wie kommt darin das wichtige Prinzip der Fürsorge zur Geltung? Meine Erfahrung ist, dassdie wichtigste Möglichkeit, Fürsorge in der Praxis auszuüben, in der ärztlichen Aufklärung liegt. Es gibt nämlich in der klinischen Praxis ein Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge. Auf der einen Seite gibt es Patienten, die alle verfügbaren Informationen hören und jede Entscheidung ganz autonom für sich allein treffen möchten. Solche Menschen sind selten, aber es gibt sie. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es Patienten, die überhaupt nichts entscheiden möchten, die nicht einmal ihre Diagnose hören wollen, die dem Arzt voll vertrauen und sagen: «Sie machen es schon richtig. Ich möchte eigentlich gar nichts wissen.» Auch diese Patienten sind selten, aber auch sie gibt es. Die allermeisten Patienten liegen irgendwo dazwischen in einem Graubereich mit jeweils individuell unterschiedlichen Bedürfnissen an Respekt für ihre Selbstbestimmung und an Fürsorgeangeboten. Die schwierige Aufgabe der Ärzte ist es, jedem Patienten die Mischung aus Selbstbestimmung und Fürsorge zu geben, die sie oder er in diesem Moment gerade benötigt. Das ist unter anderem deswegen besonders schwierig, weil dieses «Mischungsverhältnis» sich mit der Zeit, zum Beispiel im Verlauf einer schweren Erkrankung, ändern kann. Das heißt, man muss immer wieder von Neuem schauen, wo der Patient steht. Wunderbar ausgedrückt hat dies der dänische Philosoph Søren Kierkegaard:
«Wenn wir jemandem helfen wollen, müssen wir zunächst herausfinden, wo er steht. Das ist das Geheimnis der Fürsorge. Wenn wir das nicht tun können, ist es eine Illusion zu denken, wir könnten anderen Menschen helfen. Jemandem zu helfen impliziert, dass wir mehr verstehen als er, aber wir müssen zunächst verstehen, was er versteht.»[ 3 ]
Das ist eigentlich die Basis der gesamten Arbeit in der Medizin. Der Einfluss von Informationen, also von Aufklärung, auf die Entscheidungen von Patienten ist kaum zu überschätzen. Ein beeindruckendes Beispiel dafür findet sich in einem wissenschaftlichen Artikel aus dem Jahr 1994 im
New England Journal of Medicine
.[ 4 ] Dr. Murphy fragte fast 300 ältere Patienten, ob sie im Falle eines Herzstillstandes eine Wiederbelebung wünschten. 41 % bejahten dies. Danach wurden die Patienten darüber aufgeklärt, wie ihre statistische Überlebenswahrscheinlichkeit im Fall der Wiederbelebung mit und ohne schwere Behinderung aussieht. Nach dieser Aufklärung fiel die Ja-Antwortrate von 41 % auf 22 %. Und bei einer hypothetischen Erkrankung mit einer Lebenserwartung von weniger als einem Jahr wünschten nur noch 5 % eine Reanimation. Das heißt, die Entscheidungen von Patienten sind ganz stark davon abhängig, welche Informationen ihnen ärztlicherseits zur Verfügung gestellt werden. Dessen sollten sich Ärzte immer bewusst sein.
Multiprofessionelle Kommunikation
Die Multiprofessionalität ist ein konstituierendes Element der Palliativbetreuung. Der Gedanke eines Teams aus verschiedenen Professionen war für Cicely Saunders selbstverständlich: Dame Cicely Saunders, die im Jahr 2005 verstorbene Begründerin der Palliativmedizin und eine der wichtigsten Frauen des 20. Jahrhunderts – die nebenbei meines Erachtens den Nobelpreis für Medizin wesentlich mehr verdient hätte als viele Molekularbiologen, die nie einen Patienten gesehen haben –, war ausgebildete Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin. Sie vereinte somit die drei wichtigstenProfessionen in der Sterbebegleitung in einer Person und bezeichnete sich selbst mit britischem Humor als ein
onewoman multiprofessional team
. Entsprechend war die Patientenbetreuung in dem von ihr
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