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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Domenico Borasio
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medizinischen Probleme am Lebensende aus. Beispielsweise durchlaufen bis zu 80 % der Palliativpatienten am Lebensende eine Phase der Verwirrtheit. Diese kann in ausgeprägt delirante Zustände münden, bei denen die Patienten wild um sich greifen und randalieren, was begreiflicherweise Familie und Betreuungsteam massiv belastet. Diese Zustände kündigen sich in der Regel bereits einige Tage zuvor an, am häufigsten durch kurze nächtliche Verwirrtheitsphasen, die tagsüber wieder abklingen. Das sollte für die betreuenden Ärzte ein Alarmsignal sein, denn in diesem Stadium kann eine niedrig dosierte Behandlung mit Neuroleptika (z.B. Haloperidol) eine weitere Steigerung verhindern. Wenn das Delir voll ausgeprägt ist, wird die Behandlung naturgemäß schwieriger, aber auch hier lässt sich – wenn die Ursachen des Delirs nicht herauszufinden oder nicht behebbar sind – mittels Neuroleptika und anderer Medikamente fast immer eine ausreichende Linderung erreichen.
    Die Vielfalt neuropsychiatrischer Symptome am Lebensende ist groß, zumal alle Bereiche des Nervensystems von der jeweils zugrunde liegenden Erkrankung betroffen sein können. Speziell bei Krebspatienten sind neurologische Symptome am Lebensende immer häufiger zu beobachten. Dies ist ein Nebenprodukt der Erfolge der neuen Chemotherapien: Indem die Lebensdauer bei bestimmten Tumorarten, wie beispielsweise Darm- oder Unterleibstumoren, deutlich verlängertwird, steigt die Anzahl der Patienten, bei denen als Spätfolgen Tochtergeschwülste (sogenannte Metastasen) in Gehirn oder Rückenmark festgestellt werden. Diese Metastasen sind oft schwer bis gar nicht zu behandeln und stellen daher in der Regel die Todesursache dar. Aber auch dort, wo sie nicht direkt zum Tode führen, können Hirnmetastasen aufgrund der damit verbundenen neurologischen Ausfälle eine gravierende Verschlechterung der Lebensqualität verursachen. Gelegentlich muss dann das ganze Spektrum der Hightech-Medizin ausgereizt werden, um eine ausreichende Symptomlinderung zu erreichen, wie der folgende Fall zeigt.
    Die 35-jährige Patientin kam auf unsere Station in einem sehr schlechten Zustand. Ihr Unterleibstumor hatte auf die verschiedenen Chemotherapien nicht angesprochen und inzwischen den ganzen Bauchraum ausgefüllt. Die Darmtätigkeit war so gut wie zum Erliegen gekommen, und die Schmerzen durch den Druck der Tumormassen auf die Eingeweide waren unerträglich. Zudem verursachte der Druck von unten auf Zwerchfell und Lunge immer wieder Atemnot.
    Innerhalb einiger Tage konnten Schmerzen und Atemnot mit Medikamenten gut gelindert werden, die Darmtätigkeit blieb aber minimal. Es bestand kein Zweifel darüber, dass der Patientin nur noch wenige Wochen Lebenszeit verblieben. Die Hoffnung unseres Teams war, dass die Besserung des Allgemeinzustandes durch die palliativmedizinische Behandlung es der jungen Frau ermöglichen würde, sich auf gute Art und Weise von ihrer Familie (Eltern, Ehemann und zwei Kinder im Alter von sechs und neun Jahren) zu verabschieden. Das trat aber nicht ein, und zwar aus einem für die Ärzte unerwarteten Grund.
    Neben den beschriebenen Beschwerden litt die Patientin untereiner Tochtergeschwulst in der rechten Gehirnhälfte. Diese Geschwulst hatte eine Lähmung der linken Körperseite, insbesondere von Gesicht und Arm, zur Folge. Das Betreuungsteam hatte dem keine große Bedeutung beigemessen, da die Patientin aufgrund ihres Tumors ohnehin bettlägerig und pflegebedürftig war. Ansonsten war sie aber durchaus in der Lage, zu kommunizieren und auch selbständig mit der rechten Hand zu essen.
    Was wir alle unterschätzt haben: Die Lähmung der linken Körperhälfte störte die Patientin in ihrem Körperbild und Selbstbewusstsein mehr als alles andere an ihrem Gesundheitszustand. Sie war darüber tief deprimiert, wollte keine Form von psychosozialer Hilfe annehmen, redete nicht mehr mit ihrem Ehemann und weigerte sich, ihre Kinder zu sehen. Die Familie litt unbeschreiblich unter dieser Situation, die einen Abschied unmöglich zu machen drohte.
    In dieser verfahrenen Situation bat ich die Kollegen des Cyber-Knife-Zentrums München um Hilfe. Das Cyber-Knife ist eine hochmoderne Form der Strahlenchirurgie. Dabei werden mit Hilfe eines computergesteuerten Präzisionsgeräts die Strahlen genau dort gebündelt, wo die Geschwulst sitzt, und das gesunde Gewebe wird geschont. Das Problem: Es handelte sich um eine damals noch ganz neue Technik, die mehrere Voraussetzungen

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