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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Domenico Borasio
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erforderte. Unter anderem sollte die Geschwulst möglichst klein sein, und der Patient sollte einen einigermaßen guten Allgemeinzustand aufweisen. Beides traf nun auf unsere Patientin überhaupt nicht zu. Ich bat die Kollegen trotzdem, die Patientin anzuschauen und nach Möglichkeit Messung, Planung und Durchführung der Bestrahlung in einer Sitzung statt der üblichen drei durchzuführen, weil die Patientin das sonst nicht überleben würde. Das taten die Kollegen (Dr. Muacevic und Dr. Wowra) dann auch, wofür ich ihnen bis heute dankbar bin.
    Schon einen Tag nach der Cyber-Knife-Behandlung spürte die Patientin, wie der Druck in ihrem Kopf nachließ und sie den linken Arm wieder bewegen konnte. Am zweiten Tag konnte sie die linke Hand bis Schulterhöhe heben, und die Gesichtslähmung hatte sich deutlich gebessert. «Praktisch» gesehen, hatte sich damit an ihrem Zustand wenig geändert, sie war immer noch bettlägerig, und ihre Prognose war unverändert – aber ihre Gemütslage war wie verwandelt. Sie unterhielt sich mit den Pflegenden und trank sogar (ein Schlückchen) Sekt mit ihrem Ehemann, sie holte ihre Kinder wieder zu sich und regte eine Abschiedsfeier an. Diese wurde vom Seelsorger der Palliativstation für und mit der ganzen Familie gestaltet. Wenige Tage später starb die Patientin friedlich im Kreise ihrer Familie und im Beisein ihrer Kinder.
    Angesichts dieses Fallberichts ließe sich einwenden, das sei nun wirklich Ressourcenverschwendung gewesen: Eine derart teure Methode anzuwenden, nur um den Gemütszustand einer ohnehin sterbenden Patientin für wenige Tage aufzuhellen – wo bleibt da die Relation zwischen Aufwand und Wirkung? Diejenigen, denen die wichtige Veränderung für die Patientin in der Sterbephase nicht ausreicht, sollten bedenken, dass die Wirkung dieser Maßnahme nicht auf die letzten Tage der Patientin beschränkt bleiben wird. Durch die Möglichkeit eines guten Abschiednehmens ist den Angehörigen eine erschwerte Trauerphase erspart geblieben, den Kindern möglicherweise sogar eine ernsthafte psychische Traumatisierung. Das Erlebnis einer würdevollen und friedlichen Sterbephase wird die Einstellung der Angehörigen zu Tod und Sterben für die Dauer ihres Lebens beeinflussen, was bei den Kindern eine Nachwirkung übergeschätzt ca. 70 bis 80 Jahre bedeutet. Auch das ist Palliativmedizin.
Palliative Sedierung
    Bei Symptomen, die nicht ausreichend auf die Behandlung ansprechen, steht als letzte Option die sogenannte palliative Sedierung zur Verfügung. Dabei wird der Patient nach ausführlicher Aufklärung mittels Medikamenten in einen narkoseähnlichen Zustand versetzt, damit das Leiden aufhört. Die palliative Sedierung kann temporär sein, das heißt, sie wird nach einer bestimmten Zeit zurückgefahren, um festzustellen, ob sich die Symptome gebessert haben. Dies ist zum Beispiel bei Sedierungen aufgrund von deliranten Zuständen durchaus möglich, wie der folgende Fall zeigt.
    Die 58 Jahre alte Patientin mit Brustkrebs hatte seit einigen Tagen immer wieder Zeichen der Verwirrtheit gezeigt, die aber von der Station als «nicht weiter schlimm» beurteilt worden waren, da sie immer nur kurzzeitig in der Nacht auftraten. Als der palliativmedizinische Dienst zur Beratung herangezogen wurde, war die Patientin in einem ausgeprägten deliranten Zustand mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen, begleitet von wiederholten Schreikrämpfen. Sämtliche Versuche, die Symptomatik mit Medikamenten zu beheben, waren fehlgeschlagen. Wir entschlossen uns zu einer palliativen Sedierung für die Dauer von zunächst drei Tagen. Die Patientin wurde – nach Aufklärung und Einwilligung des Ehemanns, der auch ihr Betreuer war – mit Medikamenten in einen künstlichen Schlaf versetzt. Drei Tage später wurde die Medikation wieder schrittweise reduziert, die Patientin wachte auf, und das Delir war verschwunden. Sie redeteganz normal mit ihrem Ehemann und den Ärzten und gab an, keine Erinnerung an die delirante Phase oder die Zeit in der Sedierung zu haben. Die Patientin konnte wenige Tage später nach Hause entlassen werden, das Delir trat nicht nochmals auf, und sie starb zwei Monate später friedlich zu Hause.
    Manchmal ist es unumgänglich, eine palliative Sedierung in der Sterbephase durchzuführen, wenn die Symptome so quälend sind, dass die Sterbephase anders nicht friedlich ablaufen könnte. Auch in dieser Situation ist die Einwilligung des Patienten oder seines Vertreters zwingend

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