Ueber Den Deister
Grad. Zweiunddreißig Grad auf einer Brücke über die Ostsee fühlten sich auf jeden Fall erfrischender an als zweiunddreißig Grad zwischen den Hügeln des Weserberglandes.
Puttgarden, der nördlichste Punkt der Insel Fehmarn, war kein Ort, sondern lediglich die Anlegestelle für die Fähre nach Dänemark. Marder verstaute sein Auto im Bauch der »Prinzessin Margarete«, stieg auf das oberste Deck des Schiffes und genoss die frische Luft. Kein Zweifel, eine kühle Brise kam aus dem Norden und trug den Geruch des Meeres mit sich. Marder setzte sich auf eine Bank und schaute auf das Meer. Alle Plätze um ihn herum waren belegt, die Passagiere wirkten befreit und heiter, als ob sie froh waren, der Hitze des Festlandes entkommen zu sein.
An der Schiffswand segelten Möwen entlang und forderten die Passagiere mit lauten Schreien auf, ihnen Brotreste zuzuwerfen. Plötzlich sah er sie. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und lehnte sich über die Reling. Vera Matuschek auf dem Weg nach Skandinavien? Das war nicht möglich – wenn sie überhaupt unterwegs war, konnte sie nur auf einer Fähre in der Gegenrichtung sein. Die Frau drehte sich um und setzte sich zu einem Mann auf einer Bank. Sie war natürlich nicht Vera Matuschek. Marder war enttäuscht. Für ein paar Sekunden war er erregt gewesen, hatte gehofft, seine Suche nach Vera Matuschek auf diesem Schiff beenden zu können. Er fragte sich, ob er seine Gelassenheit zu verlieren begann, ob er anfing, Gespenster zu sehen. Er würde noch vielen Frauen begegnen, die von hinten oder in der Dämmerung Vera ähnlich sahen, er konnte es sich nicht leisten, deswegen jedes Mal aus dem Häuschen zu geraten.
Die Sonne auf dem offenen Oberdeck brannte trotz des kühlenden Windes auf der Haut. Marder befürchtete, sich einen Sonnenbrand zu holen, und machte sich auf eine Erkundungstour durch das Schiff. Der Salon auf dem Mitteldeck war fast menschenleer, nur im Duty-Free-Shop herrschte reges Schauen und Kaufen. Die skandinavischen Passagiere deckten sich mit alkoholischen Getränken ein, die auf hoher See wesentlich billiger waren als in ihren Heimatländern; deutsche Urlauber rüsteten sich für ihre Ferien im kühlen Norden mit wärmenden Getränken. Marder kaufte eine Flasche edlen französischen Cognac. Die gleiche Marke war in Stade mindestens doppelt so teuer, deswegen trank er zu Hause gewöhnlich gemeinen deutschen Weinbrand. Sein Gaumen war ohnehin nicht in der Lage, zu unterscheiden, ob kostbare französische Spirituosen oder preiswerter deutscher Schnaps darüber flossen.
Marder ging wieder an Deck. Die Frau, die er vorhin für Vera Matuschek gehalten hatte, saß noch am selben Platz und war nach wie vor nicht Vera Matuschek. Er zog das Handy aus der Brusttasche seines Hemdes und wählte die Nummer von Volkert, obwohl er überzeugt war, es würde auch dieses Mal niemand abheben. Zu seiner Überraschung meldete sich eine skandinavische Stimme, die offensichtlich das sagte, was in Schweden »Hallo« bedeutet. Dann war es ruhig.
Marder rief aufgeregt in das Handy: »Herr Volkert, sind Sie das?«
Das Handy blieb tot. Die Stimme war ganz bestimmt nicht die von Volkert gewesen. Wer immer den Anruf angenommen hatte, wollte seinen Namen nicht preisgeben. Marder vermutete, dass sich ein junger Mann gemeldet hatte, aber sicher konnte er sich nicht sein, vielleicht war es doch die Stimme einer alten Frau gewesen. Das Gespräch war zu kurz und zu einseitig gewesen.
Die Fähre näherte sich der dänischen Küste, Marder musste zu seinem Wagen auf das Fahrzeugdeck. An Land stoppte er in der nächsten Parkbucht und rief Erich Falkenberg an.
»Wo bist du jetzt?«, erkundigte sich der hohe Polizeibeamte.
»Ich bin gerade in Dänemark an Land gegangen.«
»Das ist schön, dass ich der Erste bin, an den du bei deiner Ankunft im Ausland denkst. Aber deswegen rufst du mich bestimmt nicht an. Was gibt es?«
»Erich, kannst du über die Telefongesellschaft, die Volkert benutzt, feststellen lassen, wo sich sein Handy zurzeit befindet? Ich habe vor wenigen Minuten seine Nummer gewählt, und es hat sich jemand gemeldet, aber es war nicht Volkert. Ich bin mir fast sicher, dass es ein Schwede war, wahrscheinlich ein junger Mann. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.«
»Das alles hört sich nicht nach einem unbeschwerten Urlaub von Volkert in der Sommerfrische an. Ich werde unsere Kommunikationsexperten daransetzen – mal sehen, ob die
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