Ueber Den Deister
suchen, und die Trolle in der Gegend sind wahrscheinlich bei Flaschen vorsichtig, auf denen ›Trollinger‹ steht.«
Als die Flaschen geleert waren, nannten sich die beiden längst bei ihren Vornamen. Manfred hatte erfahren, dass Jörg vor elf Jahren von der Lufthansa nach Stockholm versetzt worden war, um die Buchhaltung des Verkaufsbüros sowohl den schwedischen als auch den deutschen Steuergesetzen anzupassen. Aber man brauche ihn dort nun nicht mehr, nun sei er Mitarbeiter einer privaten Sicherheitsfirma.
»Was heißt ›nicht mehr brauchen‹?«, hatte Marder nachgefragt.
»Na ja, drei Jahre, nachdem ich hierhergekommen war, sind die Lufthansa und die SAS der Star Alliance beigetreten. Vielleicht haben Sie … hast du ja schon davon gehört? Das ist eine von diesen Gruppen, wo sich internationale Fluggesellschaften zusammentun, vor allem, um Kosten zu sparen. Da war dann ein eigenes Büro der Lufthansa in Stockholm nicht mehr nötig und die Niederlassung wurde aufgelöst.«
»Hat dir die Lufthansa keinen anderen Job in Deutschland oder sonst wo angeboten?«
»Doch, doch, das schon. Ich hätte nach Deutschland zurückgehen können. Das wollte ich aber nicht, weil ich inzwischen eine Freundin in Stockholm hatte. Heute ist sie meine Frau. Ich hätte zur SAS wechseln können, aber das wollte ich nicht, weil ich das Büroleben und die Buchhaltung nach so vielen Jahren als Schreibtischtäter satthatte. Deswegen habe ich mich als ›Security Guard‹ beworben und darf heute ganz legal ein Gewehr mit mir herumtragen. Es tut mir leid, dass ich dich damit erschreckt habe.«
Dann erzählte Jörg die Geschichte, wie er seine Frau kennengelernt hatte. Sie fing an mit: »Ich habe sie auf der Müllkippe gefunden.«
Marder war fasziniert und bestand auf Details.
Jörg ließ sich nicht lange bitten, mit dieser Erzählung trug er oft und gern zur Unterhaltung im Freundeskreis bei.
»Also, das war so: Als ich nach Stockholm geschickt wurde, habe ich meine alten Möbel aus Deutschland mitgebracht, auch wenn sie schon ziemlich verbraucht und verschlissen waren. Ich wusste ja nicht, wie lange ich hierbleiben würde. Nach zwei Jahren konnte ich die alten Dinger nicht mehr sehen und fing an, meine kleine Wohnung mit modernen skandinavischen Möbeln einzurichten. Deswegen habe ich die alten Sachen zerlegt und sie nach und nach zu einer Deponie gebracht. Auf einem dieser Trips parkte ich neben einer jungen Dame, die vergeblich versuchte, ihr Auto zu starten. Als ich mit dem Abladen fertig war, war ihr das immer noch nicht gelungen, und sie war ziemlich verzweifelt. Ich bot ihr meine Hilfe an, aber auch gemeinsam brachten wir ihr Auto nicht in Gang. Am Ende riefen wir den schwedischen ADAC, der glücklicherweise auch nicht helfen konnte, außer zu arrangieren, dass das Auto in eine Werkstatt abgeschleppt wurde.«
»Und dann hast du das Mädchen abgeschleppt.«
»Genauso war es. Ich fuhr sie nach Hause und nach drei Tagen brachte ich sie wieder zur Werkstatt, um ihr Auto abzuholen. Für die Zeit dazwischen hatte ich ihr angeboten, auf mich und mein Fahrzeug zurückzugreifen, wenn sie dringend irgendwohin wollte, außer zu ihrem Freund natürlich. Das hat sie zu ihrem und meinem Glück angenommen, was der Anfang einer leidenschaftlichen Liebe wurde. Um es zusammenzufassen: Ich habe ein paar alte Schachteln zum Müll gebracht und bin mit einer jungen Frau nach Hause gefahren.«
Dieser Geschichte hatte Marder nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Er hatte seine Frau bei der katholischen Jugend kennengelernt und jahrelang ihr Händchen gehalten, bevor sie ihm weitere Schritte erlaubte.
Um Mitternacht tauchte, angeregt durch den Rotwein aus Baden-Württemberg, die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. Jörg meinte, auf diese Frage gebe es keine verbindliche Antwort. Jeder Mensch sei ein einzigartiges Ergebnis der Evolution, mit einem ganz individuellen Gewissen und einem freien Willen. Deswegen müsse jeder den Sinn des Lebens für sich selbst finden, und der gelte dann auch nur für ihn. Das sei auch die Meinung eines bekannten zeitgenössischen Philosophen, von dem er gerade ein Buch gelesen habe. Marder war der Ansicht, dass an dieser Aussage irgendetwas in Richtung Nächstenliebe fehlte, aber es war spät, und er war müde und konnte sich nicht mehr auf eine Antwort konzentrieren. Also ließ er es sein.
Unverhofft, vielleicht weil er sich in dem Raum aufhielt, in dem Vera Matuschek vor kurzem gelebt hatte, drängte sich
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