Ueber Den Deister
Marder wieder das Gefühl von Traurigkeit auf, das ihn schon befallen hatte, als er in Veras Garten die verdorrenden Pflanzen betrachtet hatte. Nur war es dieses Mal stärker und beängstigender, als wollte es ihm sagen, dass zwischen Vera und Volkert etwas Tragisches passiert war. Marder wies diesen Gedanken von sich – solange er nichts Konkretes wusste, wollte er sich nicht durch negative Eingebungen beeinflussen lassen.
»Du siehst müde aus, Manfred«, stellte Jörg fest und hob sich mühsam aus seinem Sessel. »Ich glaube, du machst dir Sorgen um etwas. Um zu der Frage nach dem Sinn des Lebens zurückzukommen: Meine Frau meint, der Sinn meines Lebens sei, ihr zu dienen und ihre Wünsche zu erfüllen. Und weil ich sie liebe, halte ich mich daran. Jetzt muss ich allerdings ins Bett, sonst bin ich morgen zu nichts nutze.«
Das Frühstück am nächsten Morgen war karg: Kaffee, etwas Schwarzbrot mit Margarine, dazu selbst gemachte Marmelade aus den Beeren des Waldes. Mehr konnte Marder nicht erwarten – sein neuer Freund Jörg hatte keine Chance gehabt, ein Frühstücksbüfett für einen Gast zu planen. Nach der kurzen Mahlzeit streifte Marder aufmerksam durch das Gelände rings um das Haus und ging in beide Richtungen ein Stück am See entlang. Die Morgenluft war kalt, und ihn fröstelte. Das erinnerte ihn daran, dass Volkerts Jackett noch auf dem Rücksitz seines Wagens lag. Er holte es heraus und zog es über. Ihm war nun nicht mehr ganz so kalt, aber er fühlte sich in dieser Jacke nicht wohl. Er wollte weder in Volkerts Haut noch in seiner Kleidung stecken, zog die Jacke wieder aus und legte sie ins Auto zurück. Er warf einen Blick auf das Boot am Steg, fand aber nichts, was seine Aufmerksamkeit oder sein Misstrauen erweckte. Er hatte nicht wirklich erwartet, Blutspuren oder andere Anzeichen für ein Verbrechen zu finden. Außerdem hatte der Regen der letzten Nacht mögliche Spuren sicherlich weggewaschen. Marder bedauerte, dass er sich nicht bereits am Abend umgeschaut hatte, aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.
Er ging davon aus, dass Vera und Volkert tatsächlich an dem geplanten Abreisetag abgefahren waren – aus einem unbekannten Grund in großer Hast. Warum hatten sie das Haus so eilig verlassen, dass sie nicht einmal Zeit fanden, oberflächlich aufzuräumen? Das war seiner Meinung nach weder charakteristisch für Vera noch für Volkert. Es konnte natürlich eine ganz einfache Antwort auf diese Frage geben. Vielleicht hatten sie den letzten Abend des Urlaubs besonders herzlich gefeiert und am Morgen danach verschlafen. Da sie ihre Rückfahrt auf einer bestimmten Fähre gebucht hatten, hatten sie in Panik ihre Sachen in die Koffer geworfen und waren losgerast. Jetzt, in der Ferienzeit, waren die Fähren vermutlich ausgebucht und eine verpasste Reservierung konnte eine lange Wartezeit auf einen Platz auf einer späteren Fähre bedeuten.
Er verabschiedete sich von Jörg Warmbold und versprach ihm, sich zu melden, wenn er Matuschek/Volkert oder Volkert/Matuschek gefunden habe. Dabei habe ich Jörg überhaupt nicht erklärt, warum genau ich diesen Mann suche, dachte Marder, und glücklicherweise hat der über den Trollinger vergessen, danach zu fragen. Das ist ohnehin besser so für den Fall, dass sich die ganze Geschichte als ein harmloser Beziehungskrach herausstellt, der sich längst in Wohlgefallen aufgelöst hat.
Auf dem Weg hielt Marder noch einmal an der Tankstelle in Malilla an. Tanken musste er ohnehin, aber wichtiger war ihm, dem alten Mann, der hier arbeitete, einige Fragen zu stellen. Nachdem er den Tank seines Wagens aufgefüllt hatte, ging er in das Kassengebäude. Es war offen, aber es war niemand drin. Marder wartete. Wenn er jetzt einfach weiterfahren würde, könnte ihn niemand aufhalten, aber vermutlich tut man so etwas in einer schwedischen Kleinststadt nicht. Marder wartete weiter. Zu dumm, dass er vor dem Tanken den Tankautomaten nicht bemerkt hatte, dann hätte er vorher bezahlen können. Nach einer Viertelstunde – Marder war gerade dabei, seine Geduld zu verlieren – kam der Tankwart über die Straße geschlendert. Heute trug er keine Turnschuhe, sondern Gummistiefel. Er war offensichtlich in dem schmucklosen Café auf der anderen Straßenseite zum Frühstücken gewesen. Er drückte geruhsam seine Zigarette an der Zapfsäule aus, aus der Marder vor ein paar Minuten Benzin getankt hatte. Marder trat vorsichtshalber zwei Schritte zurück und wartete auf die Explosion.
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