Ueber Den Deister
dann endlich ins Rutschen. Bis dahin gibt es schon mal ein bisschen erfrischende Musik aus den Achtzigern und Neunzigern.«
Marder hatte für die kurze Strecke zwischen den beiden Orten die Klimaanlage nicht angestellt. Das war ein Fehler. Sein Hemd klebte an der Haut, die drückende Schwüle war bereits spürbar und kroch durch seine Kleidung. Er blickte in den Himmel, ein leichter Dunst legte sich vor die Sonne, die Änderung des Wetters schickte ihre Vorboten. Er parkte seinen Wagen am Rand der Innenstadt des Kurbades.
Die unterschiedliche Geschichte der Städte Barsinghausen und Bad Nenndorf war deutlich zu erkennen. Barsinghausen war ursprünglich ein Dorf um ein Kloster gewesen, dann eine Ansiedlung für Arbeiter in Steinbrüchen und im Kohlebergbau; seit den Sechzigern des zwanzigsten Jahrhunderts durfte sich der Ort offiziell »Stadt« nennen. Bad Nenndorf hatte sich nach seinem Höhenflug als königlich-preußisches Kurbad, der auf Brunnen mit faulig riechendem Schwefelwasser basierte, zu einem eher sanftmütigen und ruhigen Städtchen ent wickelt.
Der ehemalige Glanz des Ortes offenbarte sich in den stattlichen Gebäuden in der Nähe des Kurparks. Einige davon waren in den letzten Jahren renoviert worden und gaben den Straßen eine Atmosphäre, die Marder an das aristokratische neunzehnte Jahrhundert erinnerte. Früher waren die Noblen dieser Welt hierher zum Baden und Kuren angereist. Als die Aristokratie abgetreten war und später das Tausendjährige Reich sein verdientes Ende gefunden hatte, erblühte das Kurbad erneut als Folge des westdeutschen Wirtschaftswunders. Nach der Nachkriegszeit schickten die Krankenkassen ihre Mitglieder großzügig auf Kur und bezahlten alles für alle. Das war heute nicht mehr denkbar, in diesen Tagen hatten Kurorte wie Bad Nenndorf mit den Folgen und Kosten der Gesundheitsreform zu kämpfen. Jetzt waren die meisten Gäste im Ort weder nobler noch reicher als Marder.
Der Park wurde von alten Bäumen dominiert, zwischen denen sich offene Rasenflächen einen Hang hinaufzogen. Eine Landstraße und eine Autobahn dahinter fingen die Wälder des Deisters an, die einen riesigen Forst bildeten. Die Flora im Park war über Jahrhunderte für die Kurgäste importiert worden: Exotische Pflanzen von den fünf Kontinenten standen hier einträchtig in der Sonne am Rand des Weserberglandes. Palmen, die den lokalen Winter nicht überleben würden, wuchsen in großen Bottichen, die man im Herbst zweifellos in geheizte Räume schaffte. An verschiedenen Ecken des Parks konnten sich die Kurgäste die Langeweile vertreiben, nachdem sie am Vormittag ihre medizinischen Anwendungen erduldet hatten. Konzertmuschel, Boule-Bahn, Minigolf, Gartenschach, Leseraum und ein Thermalbad warteten auf sie. Plakate am Kurhaus kündigten Veranstaltungen an: Durch die Welt der Operette mit einem ungarischen Teufelsgeiger; botanische Führungen durch den Park oder durch den Deister mit einem Förster; Tanztee, Boule und Bridge für Senioren; Rückengymnastik für alle; Yoga für Frauen; medizinische Vorträge: Bewusstes Atmen im Alter oder Wie lebe ich besser mit Rheuma. Natürlich jeden Montag ein Begrüßungsabend für neu eingetroffene Kurgäste.
Neben dem Thermalbad befand sich ein Kneippbecken. Marder zog Schuhe und Socken aus, krempelte seine Hosen hoch und watete dreimal im Kreis durch das Wasser. Er fühlte sich erfrischt, das eiskalte Wasser an den Füßen war ein wohltuender Kontrast zu den heißen Temperaturen des Nachmittags. Er stakste drei weitere Runden durch das Becken und spürte unvermittelt einen intensiven Drang seiner Blase. Vielleicht hätte er es bei drei Runden belassen sollen, wie es eine Hinweistafel am Beckenrand den Besuchern warnend empfahl. Er ging in die Eingangshalle des Thermalbades und suchte die Tür mit dem kleinen Männchen. Wieder im Freien, kaufte er sich an einem Kiosk im Park einen Cappuccino »to go« in einem Pappbecher, setzte sich auf eine Bank neben einer Blumenrabatte, legte seine Füße auf den Nachbarstuhl, schlürfte den Kaffee durch ein kleines Loch im Plastikdeckel, döste für einige Minuten vor sich hin und freute sich auf die kühleren Tage, die bald kommen sollten.
Als er zu sich kam, konnte er die Gedanken an Vera Matuschek nicht länger unterdrücken. Hatte Volkert vielleicht doch Selbstmord begangen? Es fiel Marder nach wie vor schwer, daran zu glauben. Volkert war ihm nicht wie der sensible Typ vorgekommen, der wegen einer enttäuschten Liebe seinem
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