Über den Fluß und in die Wälder
wirst du nicht», sagte sie. «Weil du sie bereits liebst.»
«Ich würde alles, was ich liebe, nehmen und es von der höchsten Klippe, die du je gesehen hast, hinabwerfen und noch nicht mal warten, bis es aufschlägt.»
«Nein, das würdest du nicht», sagte das Mädchen. «Mich würdest du nicht von einer hohen Klippe hinabwerfen.»
«Nein», gab der Colonel zu. «Und verzeih mir mein häßliches Gerede.»
«Es war nicht sehr häßlich, und ich hab’s sowieso nicht geglaubt», gab ihm das Mädchen zur Antwort. «Was meinst du, sollte ich jetzt in die Damengarderobe gehen und mir das Haar kämmen und mich präsentabel machen, oder soll ich in dein Zimmer hinaufkommen?»
«Was möchtest du?»
«In dein Zimmer hinaufkommen natürlich und sehen, wie du wohnst und wie dort alles ist.»
«Und die Leute im Hotel?»
«In Venedig weiß man sowieso alles. Aber man kennt auch meine Familie, und man weiß, daß ich ein ordentliches Mädchen bin. Und man weiß auch, daß du’s bist und daß ich’s bin. Wir haben Kredit.»
«Schön», sagte der Colonel. «Treppe oder Fahrstuhl?»
«Fahrstuhl», sagte sie, und er hörte die Veränderung in ihrer Stimme. «Du kannst einen Jungen rufen, oder wir können ihn auch selber bedienen.»
«Wir wollen ihn selber bedienen», sagte der Colonel. «Ich habe vor langer Zeit mein Examen als Liftboy bestanden.»
Es ging glatt hinauf mit einem kleinen Bums zum Schluß und einer kleinen Berichtigung am Ende, und der Colonel dachte: Examen bestanden, so? Solltest du lieber noch mal machen.
Der Gang war jetzt nicht einfach schön, sondern aufregend, und den Schlüssel ins Schloß stecken war nicht ein einfacher Vorgang, sondern ein Ritus.
«Hier hast du’s», sagte der Colonel, als er die Tür aufstieß. «Alles, was da ist.»
«Es ist bezaubernd», sagte das Mädchen. «Aber es ist furchtbar kalt mit den Fenstern auf.»
«Ich werde sie zumachen.»
«Nein, bitte, laß sie auf, wenn du’s gern so hast.»
Der Colonel küßte sie und fühlte ihren wundervollen, langen, jungen, geschmeidigen und gutgewachsenen Körper gegen seinen eigenen Körper, der hart und stark, aber ramponiert war, und während er sie küßte, dachte er an nichts.
Sie küßten einander lange Zeit, standen aufrecht da und küßten einander fest bei der Kälte der offenen Fenster, die auf den Canal Grande gingen.
«Ach», sagte sie und dann noch mal: «Ach.»
«Wir haben nichts zu bedauern», sagte der Colonel. «Auch nicht das geringste.»
«Willst du mich heiraten, und werden wir die fünf Söhne bekommen?»
«Das will ich. Das will ich.»
«Aber würdest du auch?»
«Natürlich.»
«Küß mich noch einmal und laß die Knöpfe deiner Uniform mir weh tun, aber nicht zu sehr.»
Sie standen da und küßten einander aufrichtig. «Ich muß dich enttäuschen, Richard», sagte sie. «Ich muß dich mit allem enttäuschen.»
Sie sagte es schlicht heraus, und es traf den Colonel genauso wie eine Nachricht von einem der drei Bataillone, wenn der Bataillonskommandeur die absolute Wahrheit sprach und einem das Allerschlimmste mitteilte.
«Bist du sicher?»
«Ja.»
«Meine arme Tochter», sagte er.
Jetzt war kein Dunkel um das Wort, und sie war wirklich seine Tochter, und er bemitleidete sie und liebte sie.
«Macht nichts», sagte er. «Kämm dich und mach dir einen neuen Mund und so weiter, und dann wollen wir gut zusammen essen.»
«Sag erst noch einmal, daß du mich liebst, und laß mich die Knöpfe sehr fühlen.»
«Ich liebe dich», sagte der Colonel ganz förmlich.
Dann flüsterte er ihr ins Ohr, so zart wie er nur flüstern konnte, und so wie er geflüstert hatte, als man als junger Lieutenant auf Patrouille vier Meter weit auseinander stand. «Ich liebe dich, meine beste und letzte und einzige und wahre Liebe.»
«Gut», sagte sie und küßte ihn so, daß er das süße Salz seines Blutes auf der Lippe schmeckte. Und auch das mag ich, dachte er.
«Jetzt werde ich mir die Haare kämmen und mir einen neuen Mund machen, und du kannst zusehen.»
«Willst du, daß ich die Fenster zumache?»
«Nein», sagte sie. «Wir wollen alles im Kalten machen.»
«Wen liebst du?»
«Dich», sagte sie. «Und zuviel Glück haben wir nicht, nicht wahr?»
«Ich weiß nicht», sagte der Colonel. «Geh schon und kämm dein Haar.»
Der Colonel ging ins Badezimmer, um sich zurechtzumachen. Das Bad war das einzig Enttäuschende an seinem Zimmer. Der Tatsache zufolge, daß das Gritti als Palast erbaut war, hatte man
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