Ueber den Himmel hinaus - Roman
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Weil ich wusste, dass sie zu Dad wollte, und ich wollte nicht, dass du ins Auto steigst … du weißt schon …«
»Was weiß ich?«
»Ich wollte nicht, dass du betrunken Auto fährst«, platzte er heraus. »Wir haben neulich in der Schule über Alkohol am Steuer geredet. Und genau deshalb liegt Nikita ja auch im Koma, nicht? Weil du betrunken warst.«
Lena hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Es war dumm von ihr gewesen, anzunehmen, dass sich Anna und Matthew nicht irgendwann zusammenreimen würden, was sich zugetragen hatte. Schließlich waren sie nebenan gewesen, als sie Sam die ganze Geschichte unter Tränen gestanden hatte.
»In so einem Fall musst du mich doch wecken!« Sie packte ihn grob an der Schulter und schüttelte ihn. »Ihr könnte weiß Gott was zugestoßen sein.«
Lena griff zum Telefon und wählte hastig Sams Nummer.
Anna war dran.
»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, bellte Lena.
»Ich werde zu Daddy ziehen.«
»Das geht nicht. Warte nur, wenn ich dich erwische, dann setzt …«
Geraschel, dann war plötzlich Sam in der Leitung.
»Lena?« Seine Stimme war stets gleichbleibend sanft. Lena vermutete, dass er sie noch liebte, obwohl er neuerdings mit Miss Burton, der Musiklehrerin der Zwillinge, ausging.
»Warum hast du nicht angerufen?«, fragte sie. »Ich wache morgens auf und stelle fest, dass meine Tochter weg ist …«
»Genau das ist doch das Problem, nicht? Du hast gar nicht gemerkt, dass sie abgehauen ist. Anna sagt, sie hätte absichtlich Krach gemacht, um zu testen, ob du etwas hören würdest.«
»Ich habe ferngesehen.«
»Ich weiß, was du getan hast, Lena.«
Sie ballte wütend die Faust. »Ja, jeder weiß, was ich falsch mache. Wenn mich mein Mann nicht mit meiner eigenen Schwester betrogen hätte, dann müsste ich abends nicht meinen Kummer in ein, zwei Gläsern Wein ertränken.«
Er ließ sich nicht provozieren. »Wie dem auch sei, Anna ist hier, und es geht ihr gut.«
»Dann bring sie schleunigst her, sonst kommt sie zu spät zur Schule.«
»Lena, sie will nicht zu dir zurück, und mir wäre es ehrlich gesagt auch lieber, wenn sie hier leben würde.«
»Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass wir sie nicht auseinanderreißen.«
»Das war vor einem Jahr. Seither hat sich einiges verändert. Du hast dich verändert. Wenn du mich fragst …« Er sprach langsam und geduldig, und sie wusste, dass er im Begriff war, etwas zu sagen, das ihr nicht gefallen würde. »… sollte Matthew ebenfalls bei mir wohnen.«
»Nein«, protestierte sie reflexartig.
»Du hast selbst gesagt, dass sie zusammenbleiben sollten.«
»Matthew würde mich nicht verlassen.«
Sam seufzte. »Frag ihn einfach. Lass ihn entscheiden.«
»Wir sind doch hier die Erwachsenen.«
»Du benimmst dich aber nicht wie eine Erwachsene, Lena. Du trinkst zu viel. Ich werde nicht zulassen, dass du meine Kinder auch einer Gefahr aussetzt. Frag Matthew, ich stehe hinter seiner Entscheidung.«
Sie legte auf und drehte sich frustriert und verzweifelt zu Matthew um, der sie mit riesengroßen Augen anstarrte. Es war wohl das Beste, wenn sie das Thema ohne Umschweife aufs Tapet brachte.
»Willst du zu deinem Vater ziehen?«
»Bleibt Anna bei ihm?«
»Ja.«
Er schluckte schwer, und sie wusste, sie hatte verloren. Aber würde er den Mut aufbringen, es ihr ins Gesicht zu sagen?
»Du wärst bestimmt einsam, Mum.«
»Mach dir meinetwegen keine Gedanken. Würdest du lieber bei Dad und Gran leben als hier?«
Er nickte vorsichtig. »Ich liebe dich, Mum«, sagte er. »Aber es ist so deprimierend hier.«
Sie schloss die Augen und barg das Gesicht in den Händen.
»Mum? Weinst du?«
»Nein.« Sie ließ die Hände sinken. »Ich bin bloß müde, Matthew. Vielleicht ist es ja wirklich besser, wenn sich Dad eine Weile um euch kümmert, damit ich mich mal ein bisschen erholen kann.«
Ende der Woche waren beide Kinder ausgezogen.
KAPITEL 46
Viktor hätte das Telefon klingeln lassen, bis es aufgehört hatte, aber Uljana rief aus dem Bad: »Geh ran, du faules Schwein. Das könnte meine Mutter sein.«
Noch ein Grund mehr, nicht ans Telefon zu gehen, aber
ihre Mutter war krank, und er wollte Uljana nicht zusätzlich reizen. Sie war schon sauer auf ihn, weil er wieder einmal arbeitslos war. Er war entlassen worden, zum fünften Mal in diesem Jahr. Diesmal hatte er eine gute Stelle als Platzwart in einer nahegelegenen Schule
Weitere Kostenlose Bücher